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Bruno
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Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carroll)

Beitrag von Bruno »

Das Zaubermedaillon


"Es ist einfach wunderschön", rief Sylvie entzückt. "Bruno, schau doch nur mal!" Und damit er das Licht hindurchschimmern sehen konnte, hielt sie ein offenbar aus einem einzigen leuchtend blauen Edelstein geschnittenes herzförmiges Medaillon hoch, an dem ein dünnes Goldkettchen hing.
"Sehr hübsch", bemerkte Bruno trocken und entzifferte die eingravierten Wörter. "Jedermann - liebt - Sylvie", brachte er schließlich heraus. "Das stimmt!", rief er und flog ihr um den Hals. "Jedermann liebt Sylvie!"
"Aber wir am allermeisten, nicht wahr Bruno?" sprach der alte König, als er das Medaillon wieder an sich nahm. "Und jetzt sie dir das an, Sylvie." Er präsentierte ihr auf dem Handteller ein purpurrotes Medaillon, das dieselbe Form wie das blaue aufwies und ebenfalls an einem schlanken Goldkettchen hing.
"Wunderwunderschön!" rief Sylvie und rang vor Begeisterung die Hände. "Schau mal, Bruno!"
"Und Worte stehen auch wieder drauf", sagte Bruno. "Sylvie - liebt - jedermann!"
"Jetzt kennst du den Unterschied", meinte der alte Mann, "verschiedene Farben und verschiedene Wörter. Such dir eines aus, Liebling. Das dir am besten gefällt, schenke ich dir."
Sylvie flüsterte die Worte mit einem nachdenklichen Lächeln einige Male vor sich hin und traf dann ihre Wahl. "Es ist sehr schön, geliebt zu werden", sagte sie, "aber noch schöner ist es, andere zu lieben! Schenkst du mir das rote, Vater?"
Der alte Mann erwiderte nichts: doch als er den Kopf neigte und die Lippen zu einem langen liebevollen Kuss auf ihre Stirn drückte, da sah ich, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Dann öffnete er den Verschluss des Kettchens und zeigte Sylvie, wie man das Medaillon um den Hals unter dem Kleid verborgen tragen konnte. "Du musst es gut aufbewahren, hörst du", sagte er mit gedämpfter Stimme, "andere Leute sollen es nicht sehen. Vergisst du auch nicht, wie man es benutzt?"
"Nein, bestimmt nicht", versprach Sylvie.



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Es war kein gewöhnlicher Lampenschein, in den ich jetzt mit einem werkwürdigen ungewohnten Traumgefühl trat; über allem lag ein feiner Zauber. Licht, strahlender und goldener, als eine Lampe es je zu spenden vermochte, durchflutete den Raum, strömte durch ein Fenster, das ich bisher irgendwie nie bemerkt hatte, und beleuchtete eine Gruppe von drei Silhouetten, deren Umrisse sich immer deutlicher herausschälten - ein würdevoller alter Mann in königlichen Gewändern lehnte an einem Sessel, und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge standen neben ihm.
"Hast du noch den Edelstein, mein Kind?" sagte der alte Mann eben.
"Aber ja!" rief Sylvie mit ungewohntem Eifer. "Glaubst du, ich könnte ihn jemals verlieren oder vergessen?" Mit diesen Worten löste sie das Band von ihrem Hals und legte den Edelstein in die Hand ihres Vaters.
Bruno schaute ihn bewundernd an. "Der funkelt aber wunderschön! sagte er. „Wie ein kleiner roter Stern! Darf ich ihn mal haben?"
Sylvie nickte, und Bruno ging mit dem Edelstein ans Fenster und hielt ihn hoch gegen den Himmel, dessen tiefes Blau schon sternenbesät war. Es dauerte nicht lange, da kam Bruno ganz aufgeregt angerannt. "Sylvie! Sieh mal!" rief er. "Ich kann durchgucken, wenn ich ihn gegen den Himmel halte. Und rot ist er auch nicht. Sondern ganz wunderschön blau! Und es sind auch ganz andere Wörter! Schau doch nur!"
Inzwischen war auch Sylvie ganz aufgeregt, und die beiden Kinder hielten den Edelstein gespannt gegen das Licht und entzifferten gemeinsam die Inschrift: "Jedermann liebt Sylvie".
"Aber das ist ja der andere Edelstein!" rief Bruno. "Erinnerst du dich denn nicht, Sylvie? Der, den du dir nicht rausgesucht hast!"
Sylvie nahm den Edelstein verwirrt an sich und hielt ihn erst mit der einen, dann mit der anderen Seite gegen das Licht. "Auf der einen Seite ist er blau", flüsterte sie vor sich hin, "und auf der anderen rot! Ich dachte immer, es gäbe zwei. - Vater!" rief sie plötzlich und legte den Edelstein in dessen Hand zurück, "jetzt glaube ich, es war die ganze Zeit derselbe Edelstein!"
"Dann has’de ihn dir ja aus sich selber rausgesucht", meinte Bruno nachdenklich. "Vater, kann Sylvie etwas aus sich selber raussuchen?"
"Ja, mein geliebtes Kind", wandte sich der alte Mann an Sylvie, ohne auf Brunos komplizierte Frage einzugehen, "es gab immer nur einen Edelstein - aber du hast die richtige Wahl getroffen." Und er befestigte das Band wieder an ihrem Hals.
"Sylvie liebt jedermann - Jedermann liebt Sylvie" murmelte Bruno und reckte sich auf die Zehenspitzen, um den "kleinen roten Stern" zu küssen. "Und wenn man ihn anguckt, dann ist er rot und feurig wie die Sonne - und wenn man durch ihn durchguckt, dann ist er sanft und blau wie der Himmel!"
"Gottes Himmel", sagte Sylvie verträumt.
"Gottes Himmel", wiederholte das Kerlchen, als sie liebevoll umschlungen am Fenster standen und hinausblickten in die Nacht. "Aber Sylvie, was macht den Himmel denn so wunderherrlich blau?" Sylvies süße Lippen wollten antworten, aber ihre Stimme klang leise und sehr weit weg. Die Vision entglitt rasch meinem Blick, aber mir schien, dass in diesem letzten, verwirrenden Moment nicht Sylvie, sondern ein Engel aus diesen vertrauensvollen, braunen Augen blickte und dass nicht Sylvies Stimme, sondern die eines Engels flüsterte:


"Es ist die Liebe."




Der Text stammt aus: Carroll, Lewis: Sylvie und Bruno. Eine Geschichte. Ins Deutsche übertragen von Michael Walter und Sabine Hübner. Mit einem Nachwort von Joachim Kalka. München 2006.



Frohe Weihnachten wünscht auch

Bruno
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Yukio
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Re: Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carrol

Beitrag von Yukio »

Bruno, das Buch von Lewis Carroll kenne ich nicht. Die Leseprobe ist entweder von einer ganz schlechten Übersetzung oder es ist ganz anders wie die beiden Alice-Bücher. Alles so niedlich und gar nicht bedrohlich. Alterswerke sind immer bemüht um Frieden, aber dadurch nicht richtiger als die Hauptwerke.
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Luna
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Re: Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carrol

Beitrag von Luna »

@Yukio: Dein Gammelfleischava ist hässlich! *würg*
Die staatliche Vernichtung von Puppen muss sich für ihre Besitzer wie die Ermordung eines geliebten Familienmitgliedes anfühlen. Konsequent gegen die politische Verfolgung und Inhaftierung von unschuldigen Menschen!

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Sakura
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Re: Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carrol

Beitrag von Sakura »

Stimmt - es ist kitschig.
Und NUR kitschig.
Den Thread hätte ich fast überlesen, da wurde er wieder höher geholt. Indiesem Text hier ist nur süßliches Zeugs drin, das nach einer Verfilmung von Disney geradezu schreit. :mrgreen:
Keine logischen Paradoxa, keine Bedrohung durch rätselhafte Ereignisse, denen man mit Logik begegnen muss - nur Friede, Freude, Schmalz.

Ich muss zugeben, das Buch noch nicht gelesen zu haben, und dieser Auszug ist wahrlich keine Reklame.

Sakura
:wegrenn:
"Destiny is always revised. Anytime, everywhere." (Siddhartha)
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Luna
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Re: Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carrol

Beitrag von Luna »

Sakura hat geschrieben:Keine logischen Paradoxa, keine Bedrohung durch rätselhafte Ereignisse, denen man mit Logik begegnen muss - nur Friede, Freude, Schmalz.
Sagte unser Esoterik-Guru Sakura :wegrenn:
Die staatliche Vernichtung von Puppen muss sich für ihre Besitzer wie die Ermordung eines geliebten Familienmitgliedes anfühlen. Konsequent gegen die politische Verfolgung und Inhaftierung von unschuldigen Menschen!

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Bruno
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Re: Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carrol

Beitrag von Bruno »

Yukio hat geschrieben:Die Leseprobe ist entweder von einer ganz schlechten Übersetzung oder es ist ganz anders wie die beiden Alice-Bücher.


Ich kenne das Buch auch im Original und darf sagen, dass die Übersetzung durchaus gelungen erscheint. Aber letzteres ist freilich korrekt. Sylvie und Bruno ist tatsächlich ganz anders als die beiden Alice-Bücher.
Yukio hat geschrieben:Alterswerke sind immer bemüht um Frieden, aber dadurch nicht richtiger als die Hauptwerke.


Auch wenn der enorme Bekanntheitsgrad und Erfolg der Alice-Bücher etwas anderes suggeriert, so ist, was den Umfang (über 500 Seiten und damit mehr als doppelt so dick wie beide Alice-Bücher zusammen), die Schaffenszeit (über 20 Jahre) und das Selbstverständnis des Autors angeht, eindeutig Sylvie und Bruno das Hauptwerk Lewis Carrolls und nicht die Alice-Bücher.

"Alterswerk" ist in Bezug auf Sylvie und Bruno auch nur insofern zutreffend, dass das 2-bändige Werk im letzten Lebensjahrzehnt Lewis Carrolls fertiggestellt und veröffentlicht wurde, Konzeption und Materialsammlung reichen hingegen bis in eine Zeit zurück, als der in den 30er Jahren seines Lebens stehende Lewis Carroll noch mit den Alice-Büchern beschäftigt war.

Dass das Buch Sylvie und Bruno ganz anders als die Alice-Bücher ist, ist - wie bereits gesagt - freilich richtig. Der von mir oben zitierte Kurzauszug (der einen Teil des 6.Kapitels und den Schluss des Werkes umfasst) soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Sylvie und Bruno durchaus zahlreiche Passagen bzw. Kapitelteile auch in einem den Alice-Büchern nicht unähnlichen Stil verfasst sind. Es enthält echte "Nonsens"-Passagen (etwa im sich durch das Werk durchziehenden Lied des verrückten Gärtners), zahlreiche logische Gedankenspiele und Paradoxa (etwa durch die Äußerungen der beiden zerstreuten Hofprofessoren, die sich ebenso durch die Geschichte durchziehen), darunter auch atemberaubende Ideen, etwa, wie ein Taschentuch so zu falten ist, dass es das gesamte Universum enthält oder gar eine gedankliche Vorwegnahme von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie(!).

Immer wieder vollzogene atemberaubende Sprünge zwischen verschiedenen Welten (oft mitten im Satz!), verschiedenen Manifestationen von Figuren und auch verschiedenen Erzählstilen geben dem Werk Sylvie und Bruno äußerlich eine Inhomogenität, wie sie wohl kaum bei irgendeinem anderen Werk der Literaturgeschichte feststellbar ist. Aber wohlgemerkt nur äußerlich. Denn Lewis Carrolls Intention war viel mehr genau die gegenteilige: Nämlich aus Fragmenten ein Ganzes zu formen. Und das ist ihm letztendlich auch - wenngleich auf sehr persönliche und außergewöhnliche Art und Weise - gelungen.

Warum Sylvie und Bruno (im Gegensatz zu den Alice-Büchern) zudem ein echtes Girllover-Buch ist und wie ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Alice-Büchern und Sylvie und Bruno gesehen werden kann, habe ich bereits an anderer Stelle hier im Forum ausgeführt:


http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 4823#p4823
(allgemeine Vorstellung des Buches Sylvie und Bruno)

http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 760#p12760
(partielle Buchinterpretation von Sylvie und Bruno im Zuge meines Beitrages über "Integrierte Sexualität" versus "abgespaltene Sexualität")

http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 607#p29607
(Reflexion über Naturgeister und Elfen anhand von Sylvie und Bruno)

http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 619#p79619
(Kontextherstellung zwischen den Alice-Büchern und Sylvie und Bruno anlässlich des Tim Burton-Filmes "Alice im Wunderland" (2010))
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