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naylee
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Die Kinder hören Pink Floyd

Beitrag von naylee »

Zunächst einmal die Ernüchterung: Nein, es geht in dem Buch nicht um ein Mädchen, welches die Herzen der mädchenliebenden Fangemeinde höher schlagen lässt. Es geht auch nicht um die Liebe von Erwachsenen zu Kindern oder umgekehrt. Es geht um einen stotternden Jungen und seine Schwester, die irgendwo am Niederrhein leben und dort im Dorf die Stunden oder Tage oder Monate eines Sommers nachempfinden lassen, wie es sie damals noch gegeben haben könnte zu Zeiten, als Heino mit seiner Wandergitarre in der ZDF-Hitparade aus dem Fernseher zu marschieren schien. "Nie mehr zu vergessen sind die nahen Farben des Sommers auf dem Wohnzimmerboden, die wie von selbst nach dem Kind greifenden Hände der Mutter, die es vom Quittenbaum hebt, die Bilder, die die vier ernsten Männer aus Cambridge auf die Hüllen ihrer Schallplatten brennen: ein Kraftwerk als Schloss, an jeder Ecke ein akkurat in den Himmel ragender weißer Schornstein. Über dem Kraftwerk, schwebend, ein Schwein. Wieder ist keiner der Musiker zu sehen, es gibt keinen Namen und keinen Titel."

Die ersten 30 Seiten benötigte ich, um mich in die eigenwilligen Zeitkapseln einzulesen, um ein Gefühl für die stringent aus Kinderaugen erzählten Feinheiten zu bekommen. Nun lassen mich die federleicht formulierten, wichtigen Kindheitserlebnisse nicht mehr los, auch wenn sie mit meiner Kindheit nichts gemeinsam haben. Auf der Rückseite des Buches ist es noch treffender beschrieben:
Lutz Seiler hat geschrieben: Alexander Gorkow erzählt, woraus wir gemacht sind, nüchtern und magisch zugleich, als wären die Kindheitsträume noch nicht vorbei.
Jörg Thadeusz, WDR2 hat geschrieben: Wenn man das Buch bis zum letzten Satz zu Ende liest, sitzt man da und ertappt sich selbst beim Weinen. Tun Sie sich einen Gefallen, lesen Sie das Buch...
Katja Eßbach, NDR Info hat geschrieben: Kindheit ist trotz großem Schmerz auch ein Reich voller Rätsel und Geheimnisse. Das beschreibt Alexander Gorkow wahnsinnig liebevoll. Mit viel trockenem Humor und zu Herzen gehender Komik.
"Zwei DM pro Kind für die Sontagsmatinee. Frau Horstbroich schaut aus dem Fenster, über dem 'Kasse' steht. Das ranzige Fenster ist kaum größer als ein DIN-A4-Blatt, unten sind einige Löcher, zu denen Frau Horstbroich ein Ohr hinunterbeugt, wenn man etwas sagt. Das Fenster wird vollständig ausgefüllt vom großen, porösen Gesicht der Frau Horstbroich, vom Kopf hängen wie Nudeln die Haare, hinter der Brille schwimmen die Augen in Kreisen, es ist irgendwas los im Dorf, all die Menschen mit den dicken Brillen. Unter ihnen sind hoffnungslos viele Kinder, hilflos drehen sie vor Vorstellungsbeginn auch im Kinder die Köpfe umher, als peilten sie mit ihren Flimmeraugen nach der richtigen Frequenz im Farbenschlamassel, so auch in der Klasse, wenn sie mich zu orten versuchen, während ich neben Hubi sitze und aus dem Fenster in den Himmel schaue."

Auch ein kleines Rezept fürs Kochen mit Kindern darf nicht fehlen. :wink:

"Wohnt Heino tags im Keller, so leben die Mothers Of Invention, solange es draußen hell ist, in der Garage beim Citroen. Wie Katzen lecken die Mothers Of Invention hier das Motoröl vom Boden. Es stärkt ihre Fingernägel, Knochen, Haare und auch die Hosen. Nachts kochen die auffallend vergnügten Mothers kleine Kinder aus, tagelang. Sie benötigen Kräuter, dazu Rinde, alte, unbenutzte Tapete (einige Rollen hängen an den Stangen an der Wand der Garage über dem Citroen), sie fügen zermahlene Steine hinzu, Staub, die leeren Plastikhüllen der Schlauchmilch von Otto Mess, natürlich einige Esslöffel Motoröl, all dies kommt mit nicht zu viel Wasser und je einem frischen Büdericher Kind in den Topf über das Feuer. Die Haut des Kindes ist angeritzt, bevor es in den Sud gelegt wird. Die Mothers Of Invention schätzen den mopsigen, runden Kindergeschmack, der erst dann entsteht, wenn das Kind lange genug kocht, nur so binden sich die wichtigen Wirkstoffe aus den Kinderknochen ans Fett, nur so finden diese Wirkstoffe dann ins Blut der aufgeräumten Mothers.
Dann Manuelas Helden: The Sweet. Sie wohnen in ihrer Höhle unter unserem Garten. Erdhügel zeugen davon, dass sie mitunter hinauskommen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Schwester: 'Die Erdhügel sind von The Sweet. Sie wohnen unter der Wiese. Zwischen Schaukel und Garage.'
Man muss auf The Sweet immer gefasst sein. Die Schwester weiß, wenn kleine Jungs im Sommer um die Mittagszeit aus dem Planschbecken steigen, nackt und nur mit einem Hut auf gegen die Sonne, so gilt als sicher, dass die Hand von Brian Connolly oder Mick Tucker von unten aus der Wiese kommt wie ein schnelles Tier. Die Hand schnappt nach dem Penis. Schon ist alles zu spät. Die Hand reißt das Kind am Penis durch die Wiese runter in die Höhle von The Sweet. Eben noch saß das Kind vergnügt und dumm im Planschbecken. Nun ist es im Erdreich verschwunden. Vergeblich barmt die Mutter auf der Terrasse, sie hat ein krankes Kind, jetzt wird ihr der zwar stotternde, aber sonst hoffentlich gesunde Junge auch noch genommen. Ein weiterer kleiner Erdhügel und ein kleiner Sonnenhut, das ist alles, was oben übrig bleibt.
"
Wie nur kann ich derjenige sein, vor dem die Kinder dieser Welt gewarnt werden, von dem sie sich fernhalten sollen, wenn sie doch meine Gegenwart ganz und gar erbaulich finden?
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