Innocence (Mine-Haha)
Verfasst: 19.09.2009, 21:09
"Innocence" ist ein künstlerischer Film von Lucile Hadzihalilovic aus dem Jahr 2004 (in französischer Sprache mit englischen Untertiteln erhältlich) mit ausgesprochen hohem Schauwert, nicht nur für Girllover, aber für diese wohl doch in ganz besonderer Weise.
Der Film, der etwa 110 Minuten lang ein von der Außenwelt hermetisch abgeriegeltes Mädchenpensionat mitten im Wald zeigt, in dem der Zuschauer gewissermaßen als Voyeur den Alltag, die Spiele und die - v.a. aus Ballettproben bestehende - "Arbeit" der Insassinnen miterleben darf, ist von Frank Wedekinds 1903 veröffentlichtem Romanfragment "Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen" inspiriert worden und gibt dessen Inhalt zwar teilweise frei aber doch sinngemäß weitestgehend authentisch wieder.
Für einen kurzen Einblick in den Inhalt und v.a. auch für Bildkostproben aus dem Film kann hier dankenswerterweise auf die GLF-Filmliste verwiesen werden: http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 038#p36038
Was Innocence/Mine-Haha nun ist bzw. aussagt, ob die Geschichte vorrangig als schön oder vielleicht als verstörend erlebt wird, dürfte stark vom jeweiligen Betrachter und seinen Gedanken abhängen.
Mich hat der Film jedenfalls - in Kombination mit der Lektüre der literarischen Vorlage - zu umfangreichen Gedanken angeregt und ich möchte euch hier meine persönliche Interpretation (bei der ich versucht habe, die Geschichte im Kontext von Wedekinds Gesamtwerk zu deuten) nicht vorenthalten.
In seinem - nicht zuletzt als beliebte Schullektüre bekannten - frühen Drama "Frühlings Erwachen" (1891) übt Frank Wedekind bereits massive Kritik an jener bürgerlichen Gesellschaft, die seinem Urteil zufolge durch inadäquate Erziehung der Kinder und Jugendlichen deren natürliche Sexualität zu unterdrücken versuche und damit die jungen Menschen ins Verderben stürze oder ihnen zumindest das Leben sehr schwer mache. Und hätte Wedekind nicht daneben (z.B. sehr deutlich in der "Lulu"-Tragödie (1895) [vgl. dazu: http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 778#p26778]) ein Menschenbild an den Tag gelegt, das den Menschen in allzu einseitiger Weise auf ein marionettenhaftes triebgesteuertes Wesen reduziert - hier handelt es sich nicht mehr um Gesellschaftskritik, sondern um Biologismus! -, und stattdessen seiner Gesellschaftskritik ein wirklich humanes Welt- und Menschenbild entgegenzusetzen gehabt, dann käme seine Botschaft insgesamt freilich um vieles überzeugender an.
Das 1903 von Wedekind veröffentlichte Romanfragment "Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen" schließt, wie der Autor selbst feststellt, gewissermaßen an die in "Frühlings Erwachen" initiierte Gesellschaftskritik an, bietet aber zugleich auch - und das ist ein keineswegs untypisches Element in Wedekinds Werk - einen gewissermaßen künstlich bewusst herbeigeführten voyeuristisch-erotisierenden Einblick in die (in diesem Falle tatsächlich noch kindlich-unschuldige) Weiblichkeit.
Wir haben es hier mit dem Paradox der Erotisierung der "Asexualität" zu tun, bzw. anders ausgedrückt: Gerade um die gewünschte Erotik herbeizuführen, muss das wahrgenommene bzw. potenziell sich äußernde "natürlich-sexuelle" Element unterdrückt werden. Vielmehr muss - wiederum paradox - eine künstliche "Natürlichkeit" geschaffen werden: Die dressurartige körperliche Ausbildung intendiert eine "animalisch-natürliche" Bewegungsschönheit, wie U.Jenny/Red.Kindler Lit.Lexikon treffend schreibt. Auf der Theaterbühne wird (wie man am Ende des Filmes auch sieht) das Ergebnis schließlich dem Zuschauer-Voyeur verkauft und damit wird - wie sich herausstellt - die Ausbildung der Mädchen finanziert.
Die hier von Wedekind kritisierte, unter Vernachlässigung des geistigen Elementes erfolgende Produktion der "künstlich-natürlichen", "asexuell-erotischen" Körper-Marionette steht allerdings lediglich jener anderen Trieb-Marionette gegenüber, die Wedekinds eigenes biologistisches Menschenbild produziert. Letztendlich verliert Wedekinds Kritik damit an Schlagkraft, da im Rahmen eines materialistischen Welt- und Menschenbildes die Menschenwürde per se nicht begründbar ist. Und die hierfür tatsächlich erforderliche geistig-spirituelle Komponente wird man in Wedekinds Werk vergeblich suchen.
Finden wir eine ähnliche Problematik nicht auch in so manchen Argumentationen unserer heutigen Zeit, wo es um "sexuelle Aufklärung"/"Selbstbestimmung" des Kindes versus "Schutz des Kindes vor Sexualität" und dgl. geht, wieder?
So - und nun mache ich die Bahn frei für etwaige Kommentare. Vielleicht hat sich ja jemand durch meinen Wörterausstoß durchgefressen und konnte damit etwas anfangen.
Vielleicht sogar jemand, der auch den Film gesehen hat. Der vielleicht auch Wedekind kennt. Der mir (teilweise) zustimmt oder eine gänzlich gegenteilige Auffassung der Dinge hat. Oder der mit all dem überhaupt nichts anfangen konnte, und genau das hier kommentieren möchte...
Der Film, der etwa 110 Minuten lang ein von der Außenwelt hermetisch abgeriegeltes Mädchenpensionat mitten im Wald zeigt, in dem der Zuschauer gewissermaßen als Voyeur den Alltag, die Spiele und die - v.a. aus Ballettproben bestehende - "Arbeit" der Insassinnen miterleben darf, ist von Frank Wedekinds 1903 veröffentlichtem Romanfragment "Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen" inspiriert worden und gibt dessen Inhalt zwar teilweise frei aber doch sinngemäß weitestgehend authentisch wieder.
Für einen kurzen Einblick in den Inhalt und v.a. auch für Bildkostproben aus dem Film kann hier dankenswerterweise auf die GLF-Filmliste verwiesen werden: http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 038#p36038
Was Innocence/Mine-Haha nun ist bzw. aussagt, ob die Geschichte vorrangig als schön oder vielleicht als verstörend erlebt wird, dürfte stark vom jeweiligen Betrachter und seinen Gedanken abhängen.
Mich hat der Film jedenfalls - in Kombination mit der Lektüre der literarischen Vorlage - zu umfangreichen Gedanken angeregt und ich möchte euch hier meine persönliche Interpretation (bei der ich versucht habe, die Geschichte im Kontext von Wedekinds Gesamtwerk zu deuten) nicht vorenthalten.
In seinem - nicht zuletzt als beliebte Schullektüre bekannten - frühen Drama "Frühlings Erwachen" (1891) übt Frank Wedekind bereits massive Kritik an jener bürgerlichen Gesellschaft, die seinem Urteil zufolge durch inadäquate Erziehung der Kinder und Jugendlichen deren natürliche Sexualität zu unterdrücken versuche und damit die jungen Menschen ins Verderben stürze oder ihnen zumindest das Leben sehr schwer mache. Und hätte Wedekind nicht daneben (z.B. sehr deutlich in der "Lulu"-Tragödie (1895) [vgl. dazu: http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 778#p26778]) ein Menschenbild an den Tag gelegt, das den Menschen in allzu einseitiger Weise auf ein marionettenhaftes triebgesteuertes Wesen reduziert - hier handelt es sich nicht mehr um Gesellschaftskritik, sondern um Biologismus! -, und stattdessen seiner Gesellschaftskritik ein wirklich humanes Welt- und Menschenbild entgegenzusetzen gehabt, dann käme seine Botschaft insgesamt freilich um vieles überzeugender an.
Das 1903 von Wedekind veröffentlichte Romanfragment "Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen" schließt, wie der Autor selbst feststellt, gewissermaßen an die in "Frühlings Erwachen" initiierte Gesellschaftskritik an, bietet aber zugleich auch - und das ist ein keineswegs untypisches Element in Wedekinds Werk - einen gewissermaßen künstlich bewusst herbeigeführten voyeuristisch-erotisierenden Einblick in die (in diesem Falle tatsächlich noch kindlich-unschuldige) Weiblichkeit.
Wir haben es hier mit dem Paradox der Erotisierung der "Asexualität" zu tun, bzw. anders ausgedrückt: Gerade um die gewünschte Erotik herbeizuführen, muss das wahrgenommene bzw. potenziell sich äußernde "natürlich-sexuelle" Element unterdrückt werden. Vielmehr muss - wiederum paradox - eine künstliche "Natürlichkeit" geschaffen werden: Die dressurartige körperliche Ausbildung intendiert eine "animalisch-natürliche" Bewegungsschönheit, wie U.Jenny/Red.Kindler Lit.Lexikon treffend schreibt. Auf der Theaterbühne wird (wie man am Ende des Filmes auch sieht) das Ergebnis schließlich dem Zuschauer-Voyeur verkauft und damit wird - wie sich herausstellt - die Ausbildung der Mädchen finanziert.
Die hier von Wedekind kritisierte, unter Vernachlässigung des geistigen Elementes erfolgende Produktion der "künstlich-natürlichen", "asexuell-erotischen" Körper-Marionette steht allerdings lediglich jener anderen Trieb-Marionette gegenüber, die Wedekinds eigenes biologistisches Menschenbild produziert. Letztendlich verliert Wedekinds Kritik damit an Schlagkraft, da im Rahmen eines materialistischen Welt- und Menschenbildes die Menschenwürde per se nicht begründbar ist. Und die hierfür tatsächlich erforderliche geistig-spirituelle Komponente wird man in Wedekinds Werk vergeblich suchen.
Finden wir eine ähnliche Problematik nicht auch in so manchen Argumentationen unserer heutigen Zeit, wo es um "sexuelle Aufklärung"/"Selbstbestimmung" des Kindes versus "Schutz des Kindes vor Sexualität" und dgl. geht, wieder?
So - und nun mache ich die Bahn frei für etwaige Kommentare. Vielleicht hat sich ja jemand durch meinen Wörterausstoß durchgefressen und konnte damit etwas anfangen.
Vielleicht sogar jemand, der auch den Film gesehen hat. Der vielleicht auch Wedekind kennt. Der mir (teilweise) zustimmt oder eine gänzlich gegenteilige Auffassung der Dinge hat. Oder der mit all dem überhaupt nichts anfangen konnte, und genau das hier kommentieren möchte...