Aus einer anderen Zeit: SPIEGEL kritisiert falsche Aufklärung & unbegründete Angstmacherei
Verfasst: 30.11.2021, 22:16
Von 1976. "Mann mit Mantel".
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41237652.html
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41237652.html
Ja, und in dem Tenor geht der Artikel dann noch weiter. Wirklich eigenartig, das heute zu lesen.Seit zwei Wochen ist das Aufklärungswerk »gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern« an Kiosken erhältlich: ein Novum staatlicher Öffentlichkeitsarbeit -- nicht nur, weil es für 1,50 Mark verkauft statt gratis verteilt wird. Es ist das erste Gemeinschaftsprodukt einer vor zwei Jahren gegründeten »Projektleitung kriminalpolizeiliches Vorbeugungsprogramm« des Bundes und der Länder (Etat: 850 000 Mark)[...]
»Kriminalpolizeilicher Sachverstand«, so rühmte der Vorsitzende der Projektgruppe, der Stuttgarter Ministerialdirigent Alfred Stümper, »wurde mit kinderpsychologischem Wissen und werbetechnischem Können zusammengebracht.«
Doch das Eigenlob scheint vorschnell, und Experten finden von Fachwissen über die vielfältigen äußeren und inneren Vorgänge bei Kindern, wenn sie Sexualerlebnisse mit Erwachsenen hatten, in Text und Bild keine Spur. Sie halten die Broschüre für wirkungslos, wenn nicht gar, so der Hamburger Psychiater und Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch, »für schädlich, weil von ihr nur schlechte Einflüsse auf die Kinder ausgehen können«.
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Zahlreiche Eltern konfrontiert die Sittenfibel auf neue Art mit dem Problem, wie sie sich verhalten sollen, wenn ihre Kinder sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen hatten. Erkenntnisse der Jugendpsychiatrie und der Sexualwissenschaft über Entstehung, Ablauf und Folgen sexueller Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen -- seit Jahren unbestritten -- haben die amtlichen Broschüren-Schreiber dabei jedoch unbeachtet gelassen -- etwa die Tatsache, daß schädliche Einflüsse auf Kinder nur die unter Drohungen und mit Gewalt vorgenommenen sexuellen Handlungen haben; in allen anderen Fällen setzt erst die Reaktion der Erwachsenen den Schaden.
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Seien es echte »Kontakt- oder besondere Zärtlichkeitsbedürfnisse« (Lempp), »die Kompensation einer geringen Geborgenheit im Elternhaus« (Schorsch) oder ganz allgemein eine »emotionale Mangelsituation« » wie die Hamburger Professorin für Jugendpsychiatrie Thea Schönfelder in langjährigen Untersuchungen herausgefunden hat: In etwa der Hälfte aller Fälle liegt eine aktive Mitbeteiligung des Kindes vor.
Anders als die Polizei-Strategen von der Sittenfront sehen die Fachleute darin keine besonderen Gefahren.[...]