Seite 1 von 1

Alice I have been - Alice und ich

Verfasst: 25.10.2025, 19:52
von Flaubert
Wer kennt diesen Roman? Ich habe ihn gelesen und an vielen Stellen nicht aufhören können, zu heulen.
Wie sehr mich das doch identifiziert...

Melanie Benjamin erzählt in Alice und ich die Geschichte jener Frau, die hinter der berühmtesten Kinderbuchfigur der Welt steht: Alice Liddell, das Mädchen, das Lewis Carroll zu Alice im Wunderland inspirierte. Doch hier spricht nicht das staunende Kind aus dem Kaninchenbau, sondern die erwachsene Alice, die auf ein Leben zurückblickt, das von einer einzigen Geschichte überschattet wurde.

Schon als Kind wird Alice von Charles Dodgson, dem späteren Lewis Carroll, fasziniert beobachtet. Er erkennt in ihr eine Leichtigkeit und Fantasie, die seiner strengen viktorianischen Welt fehlt. Zwischen beiden entsteht eine zarte Nähe – voller Bewunderung, unausgesprochener Liebe, kindlicher Vertrautheit und einer Spannung, die sich erst viel später in ihrer ganzen Ambivalenz zeigt. Benjamin deutet diese Beziehung mit großer Behutsamkeit an: Sie vermeidet jede Sensationslust und zeichnet Dodgson als tragische, einsame Gestalt, gefangen in seinen eigenen Gefühlen.

Als Erwachsene versucht Alice, sich von dieser Vergangenheit zu lösen – doch der Ruhm des Buches verfolgt sie. Selbst als der jüngste Sohn Königin Victorias um ihre Hand anhält, bleibt sie „die Alice“, Symbol einer Unschuld, die sie längst verloren hat. Der Roman begleitet sie durch ein ganzes Jahrhundert, durch gesellschaftliche Zwänge, Verluste und den Versuch, ein eigenes Leben zu führen jenseits der Figur, zu der die Welt sie gemacht hat.

Benjamin schreibt in einem dichten, atmosphärischen Stil, der das viktorianische England lebendig werden lässt. Ihre Sprache ist elegant, eindringlich und von feiner psychologischer Beobachtung. Besonders beeindruckend ist, wie sie Alices Stimme formt: eine kluge, melancholische Erzählerin, die zugleich Opfer und Zeugin einer mythischen Verwandlung ist - und die romantische Gefühle zu einem Erwachsenen einräumt.

Alice und ich ist kein klassischer Historienroman, sondern eine Reflexion über Erinnerung, Identität, kindliche Liebe und die Last des Ruhms. Melanie Benjamin gelingt das Kunststück, die reale Alice Liddell aus dem Schatten der Fiktion hervortreten zu lassen – als Frau aus Fleisch und Blut, voller Widersprüche, Stolz und Schmerz.

Ein stilles, kluges und zutiefst menschliches Buch – und eine der schönsten literarischen Hommagen an das Wunder und die Melancholie des Erwachsenwerdens.