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Nemo
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Die wilden Jahre sind vorbei

Beitrag von Nemo »

Die wilden Jahre sind vorbei

Heute hätte Michel aus Lönneberga ADHS, und Pippi Langstrumpf wäre längst in Therapie. Astrid Lindgrens Helden zeigen, wie unfrei Kinder heute leben.

Jahrzehntelang galt Astrid Lindgrens „Michel aus Lönneberga“ als ein Ausbund an Wild- und Frechheit, als Erwachsenenschreck und lustige Nervensäge. Seit einiger Zeit ist der schwedische Blondschopf aber auch ein Fall für den Psychiater: Michel leidet nach Meinung vieler Experten an ADHS, dem Aufmerksamkeits-Defizit- oder einfacher „Zappelphilipp“-Syndrom.

ADHS ist eine in den vergangenen Jahren rapide gestiegene Erkrankung von Kindern. Hätte sie nicht teilweise so schlimme Konsequenzen, könnte man sie eine Modekrankheit nennen. Zwischen 2004 und 2007 wuchs die Zahl der ADHS-Diagnosen allein in Niedersachsen um 50 Prozent. Bundesweit geht man derzeit von rund 500.000 erkrankten Kindern und Jugendlichen aus. Lindgrens Michel wird von vielen Experten als prototypisches Beispiel für einen ADHS-Jungen genannt, der nicht stillsitzen kann, ständig Wutausbrüche bekommt und so flippig ist, dass er Erwachsenen sogar zwangsweise Streiche spielt.

Sogar Bücher über den angeblich hyperaktiven Michel gibt es schon. Die Verfasser solcher Lesarten betonen, dass man an Michel auch die wertvollen Eigenschaften von ADHS-Kindern ablesen kann: Individualität, Kreativität, Witz. Sie übersehen aber, dass sie dem fiktiven Lausejungen an anderer Stelle Gewalt antun. Statt seine Geschichten als literarische Beispiele dafür zu sehen, wie ein unbezähmbares Kind trotz unbestreitbar großer Nervereien in einer Dorfgemeinschaft ohne jedes Therapieangebot groß werden kann, machen sie einen kranken Jungen aus ihm.

Sie projizieren die Probleme einer Gesellschaft auf ihn, die für das unangepasste Verhalten von Kindern kein Verständnis mehr übrig hat, sondern immer häufiger nur noch Krankheitsbilder: Introvertierte, kontaktarme Kinder geraten heute unter Asperger- oder Autismusverdacht, stille Träumer haben das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, und der Michel hat die wilde ADS-Variante: ADHS.

Dabei könnte man aus Lindgrens Klassikern (allesamt Oettinger Verlag) viel über eine Welt lernen, in der auch unangepasste Kinder ihren Platz finden, eine Welt, in der Wildheit auch etwas mit Freiheit zu tun hat – und nicht nur mit Medikamenten wie Ritalin. Wenn man die Geschichten über Pippi Langstrumpf aufmerksam liest, bekommt man wieder ein Gefühl für ein Leben, das nicht mit Frühenglisch anfängt und mit psychosomatischem Schulstress endet. Die rothaarige, rotznasige Halbwaise und notorische Schulschwänzerin Pippi findet Plutimikation einfach doof – statt unter der heute so oft diagnostizierten Dyskalkulie (= Rechenschwäche) zu leiden. Sie schreibt so schlecht, wie sie rechnet und hat dazu noch ein Autoritätsproblem. Eine wie sie hätte heute zwischen Legasthenie- und Dyskalkulie-Kursen, Konzentrationsgruppen und Ergotherapie vermutlich kaum noch Zeit zum Spielen. Keinen Gedanken könnte sie daran verschwenden, ihren Vater, der ihr Goldstücke statt Aufmerksamkeit schenkt und nach dem Tod der Mutter allein in die Südsee abhaut, vor Bösewichten wie Messerjocke und Blut-Svente zu retten.

Pippi ist ein gutes Beispiel für ein Kind, das selbstbewusst und phantasievoll mit seinen Schwächen umgeht. Man kann aus den Büchern Lindgrens aber noch mehr über ein anderes Verständnis von Kindheit lernen. Dass manche Kinder heute überall anecken, hängt möglicherweise damit zusammen, dass ihnen der Platz fehlt, um Phantasien, um extreme Gefühle auszuleben. Der amerikanische Schriftsteller Michael Chabon hat in einem Essay beklagt, dass die Wildnis der Kindheit durch die Überfürsorge der Eltern zerstört würde.
Sandplätze, Bachbetten, Gassen und Wälder seien zugunsten „eines Systems von Reservaten“ aufgegeben worden: „fröhliche Freizeitzentren“, von Erwachsenen ohne weiße Flecken für die Phantasie der Kinder entworfen. „Wir planen ihre Erlebnisse, wir fahren sie vom Haus des einen zum Haus des anderen, sodass sie nie die Chance bekommen, die unerforschten Länder dazwischen zu entdecken“, schreibt Chabon. Diesen überbehütenden Blick auf Kinder hat auch der renommierte hannoversche Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann immer wieder scharf kritisiert.

Gibt es noch echte Freiräume für Kinder in den verplanten, verkehrsreichen Städten von heute? Bei Astrid Lindgren lernt man, dass das gar nicht das Entscheidende ist. Die fünfjährige Lotta zum Beispiel, die Hauptfigur aus den gleichnamigen Kinderbüchern lebt in einem Haus an einer steil ansteigenden Straße. Ihre Freizeit besteht nicht darin, dass sie auf Wiesen oder in Wäldern spielt. Lotta ist frei, weil sie sich ohne ständige Kontrolle der Erwachsenen bewegen kann. Sie vertreibt sich den Tag damit, dass sie zur alten Nachbarin, Tante Berg, geht. Es macht beiden nichts aus, dass Tante Berg oft so krank ist, dass sie sich kaum um Lotta kümmern kann. Lotta bleibt ein bisschen, geht zum Süßigkeitenladen ein paar Häuser weiter oder spielt alleine draußen. Es ist nicht so, dass dabei nichts passiert. Radfahren bringt Lotta sich auf der steilen Straße verbotenerweise alleine bei, ein schlimmer Sturz mit Überschlag ist die Folge. Aber in Lindgrens Büchern ist das ein kleiner Preis für eine Welt, in der Kinder Freiräume haben, für eigene Gedanken, Spiele, Geheimnisse.

In Liane Schneiders Geschichten von Conni (Carlsen Verlag), einer heute sehr erfolgreichen, etwa gleichaltrigen Figur wie Lotta, ist für all das kein Platz. Conni ist ein Kind, das perfekt in die gegenwärtige Wertewelt in Erziehungsfragen passt. Sie macht nichts ohne Erwachsene und lernt immerzu: Reiten, Balletttanzen, Musikmachen, Fußball. Der Blondschopf lebt beispielhaft vor, wie es ist, zum ersten Mal in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen. Die kleinen Leser sollen von Connis Erfahrungen profitieren, um besser mit den Anforderungen eines modernen Kinderlebens fertigzuwerden. Was für ein Unterschied zu Pippi, Michel oder Lotta, die sich den Tag mit nutzlosen Dingen vertreiben: mit Abenteuern, Träumereien. Sie spielen um des Spielens willen – und machen dabei Erfahrungen, die heutigen Kindern oft vorenthalten bleiben: eigene nämlich, weder von Conni vorgelebt noch von Erwachsenen kontrolliert.

Ohne Risiken ist eine freiere, selbstbestimmtere Kindheit aber nicht zu haben. Das versinnbildlicht das Kinderbuch einer der wichtigsten Gegenwartsautorinnen aus Lindgrenland: Pija Lindenbaum. „Franziska und die Wölfe“ (Moritz Verlag) wurde 2000 in Schweden mit dem renommiertesten Preis für Kinderliteratur geehrt – und bekam auch in Deutschland viele Auszeichnungen. Die Hauptfigur hat all die Sorgen von modernen Eltern verinnerlicht. Franziska ist eine, die nicht gerne auf Dächer von Spielhäusern für Kinder klettert, weil man da runterfallen kann. Sie streichelt Hunde nicht, springt nicht über Gräben, sie traut sich eigentlich gar nichts, weil ja alles irgendwie mit Gefahren verbunden ist. Das ändert sich erst, als sie sich bei einem Ausflug des Kindergartens im Wald verirrt und plötzlich von allen verlassen den Wölfen begegnet. Es ist überraschend und sehr witzig, wie sich Franziska in dieser Situation bewährt. Und am Schluss klettert sie ganz allein aufs Spielehaus. Das wünscht man auch ihren kleinen Lesern – und deren Eltern.


Quelle: Jutta Rinas in der Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 20. August 2009
In der Jugend studiert man Erwachsene, um klug zu werden.
Im späteren Leben studiert man Kinder, um glücklich zu werden.

(Peter Rosegger)
gewuerzgurke

Re: Die wilden Jahre sind vorbei

Beitrag von gewuerzgurke »

Keine Worte.

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Amiga
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Re: Die wilden Jahre sind vorbei

Beitrag von Amiga »

Ja den Artikel habe ich auch gelesen,es stand sogra im Stern etwas zu dem Thema,leider ist die Zeitschrift zu teuer für mich ! Aber das trifft genau das was ich schon lange immer wieder sage !! Last die Kinder wieder Kinder sein !
Scheiß RTL !
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