Thomas Schlingmann:
Des Kaisers neue Kleider? – Eine Kritik am Projekt „Kein-Täter-werden“
https://www.tauwetter.de/images/phocadownload/pdf/2015/2015-06-10_Schlingmann_Kaisers_neue_Kleider.pdf
Hier ein paar Auszüge:
(Die Hervorhebung ist von mir.)
Zusammenfassung:
Wer die öffentliche Diskussion der letzten Jahre verfolgt, kann den Eindruck gewinnen, der Großteil der sexualisierten Gewalt würde von „Pädophilen“ begangen, aber zum Glück gäbe es das Projekt „Kein-Täter-werden“, das endlich dagegen effektive Prävention betreibe. Dort würden „pädophile“ Männer erreicht, bevor sie sexualisierte Gewalt begehen, und durch die Therapie davor bewahrt, so etwas zu tun.
Der Autor wirft einen kritischen Blick auf die Konzeption und Arbeit von „Kein-Täter-werden“. Er diskutiert u.a. die Genauigkeit der verwendeten Begriffe, die Konstruktvalidität1 und Reliabilität2 der Diagnostik, die Relevanz und ethische Grundlagen.
Er führt aus, dass die Grundannahmen von „Kein-Täter-werden“ hinterfragt werden müssen und zum Teil widerlegt sind, für einige derselben keine Belege vorgebracht werden können, die Diagnostik kritikwürdig ist, die originäre Zielgruppe kaum erreicht wird und dass es während der Therapie zu einer Fortsetzung schon vorher begangener sexualisierter Gewalt kommt, offensichtlich ohne dass „Kein-Täter-werden“ adäquat reagiert.
Es wird sowohl aus Stiftungsgeldern, als auch von der öffentlichen Hand finanziert.
Es bleibt die Frage, ob es wirklich zielführend ist, diejenigen, die sexualisierte Gewalt ausüben, mit denjenigen, die zwar durch sexualisierte Kinderabbildungen sexuell erregbar sind, aber gar keinen Wunsch und keinen Willen verspüren, Kindern sexualisierte Gewalt anzutun, in einer Gruppe zusammen zu fassen.
Eine sexuelle Erregbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit einer sexuellen Präferenz. Erektionen sind nicht zwangsläufig an das Bedürfnis gekoppelt, mit jemand Sex haben zu wollen. Sie treten in wesentlich mehr Situationen auf, Schlafforscher haben z.B. inzwischen die Erfahrung vieler Männer bestätigt, dass nächtliche oder morgendliche Erektionen unabhängig von sexuellen Träumen sind. Und selbst wenn eine Erregung sexuell verursacht ist, bedeutet dies noch nicht, dass die betroffene Person sexuelle Aktivitäten anstrebt oder will. Dies ist aus der Auseinandersetzung mit Jungen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind hinlänglich bekannt. Auch sie sitzen öfter dem ihnen von Tätern eingeimpften Mythos auf, eine Erektion bedeute, etwas selber gewollt zu haben. „Kein-Täter-werden“ reproduziert mit der Gleichsetzung genau diese Täterargumentation.
Wie viele Männer, die als „pädophil“ diagnostizierbar sind, gibt es wirklich?
Wenn es um die Anzahl der „pädophilen“ Männer geht, sprechen mehrere Vertreter von „Kein-Täter- werden“ von 1 % der männlichen Bevölkerung Deutschlands. Beier (2012) selber äußert: „Diese Gruppe ist in etwa nach unseren Daten auf 1 % der männlichen Bevölkerung abzuschätzen“. Ahlers meint in einem Interview (Etzold, 2005), dass 1 % der männlichen Bevölkerung unter einer „Pädophilie“ leidet. Und Bosinski von der Kieler Abteilung von „Kein-Täter-werden“ sagt in einem anderen Interview:
Hier bezeichnet dieselbe Zahl einmal diejenigen, die durch Kinder sexuell erregbar sind (Beier), diejenigen, die unter „Pädophilie“ leiden (Ahlers) und diejenigen, die eine „Pädophilie“ ausagieren (Bosinski). In dem Text von Kuhle et al. (2014, S. 111) ist dazu eine Quelle angeben:„Wir wissen aus Untersuchungen, dass circa ein Prozent der erwachsenen Männer in Deutschland sexuell auf Kinder orientiert sind. Entweder ausschließlich oder auch auf Kinder orientiert sind. Und diese Neigung schon ausagiert haben. Das heißt, Kinder missbraucht haben“ (Wellhörner, 2012).
Bei der ersten hier genannten Quelle handelt es sich um eine von Ahlers und Beier durchgeführte Anschlussarbeit einer Studie im Auftrag der Pharmaindustrie für Potenzmittel.„Die Prävalenz pädophiler bzw. hebephiler Neigung in der männlichen Gesamtbevölkerung ist unbekannt, liegt aber schätzungsweise zwischen 1‐5 % (Ahlers et al., 2011; Seto, 2008).“
Das Ausmaß sexualisierter Gewalttaten durch „Pädophile“
Der Anteil „pädophiler“ Täter in der Gruppe der Täter insgesamt ist nicht identisch mit dem Anteil der durch diese Gruppe begangenen Taten (Dies wäre nur der Fall, wenn alle Täter ausnahmslos jeweils die gleiche Zahl von Taten begehen würden, was nicht der Fall ist).
Dennoch setzen Kuhle et al., (2014) Täter und Taten gleich und schreiben:
Da Beier in öffentlichen Vorträgen (z.B. Beier, 2012) von Taten spricht, kann angenommen werden, dass die im Zitat vorgenommene Gleichsetzung von Tätern und Taten ein Flüchtigkeitsfehler ist und es korrekt der Anteil von „pädophilen“ Tätern begangene Taten heißen müsste.„Gemäß diesen Studien (gemeint sind phallometrische Studien, d. A.) lag der Anteil pädophil‐ motivierter Missbrauchstäter zwischen 40 % und 50 % der untersuchten Stichproben, die verbleibenden 50‐60 % sind Ersatzhandlungen (vgl. Seto, 2008)“ (S. 110).
Ein Beleg für die Zahlen wird nicht zwar angeführt, es wird aber auf „Seto, 2008“ verwiesen.
Insgesamt werden bei Seto (2008) auf S. 9 vier Studien aufgeführt:
...
Ein genaues Lesen macht als erstes deutlich, dass hier gar nicht von einem Anteil an Taten die Rede ist, sondern einem Anteil von „Pädophilen“ in der Gruppe der Täter insgesamt. Die Einschätzung, dass 40-50 % der Taten werden von Pädophilen begangen werden, wird hier nicht belegt.
Und hier wird es richtig interessant. Das hier sollte man sich ruhig zweimal durchlesen:
Bei Überprüfung der Quellen von Seto stellt sich also heraus, dass die behaupteten Angaben dort nicht zu finden sind. Diese unbelegten Angaben wurden im Text von Kuhle, Grundmann & Beier reproduziert und als Anteil „pädophiler“ Taten missverstanden.
Andere Sexualwissenschaftler gehen von anderen Größenordnungen aus und kommen zu anderen Schlüssen. Becker (2010) setzt die Anzahl der „pädophilen“ Täter ins Verhältnis zu der Gesamtgruppe der Täter. Sie betont, „dass die ‚strukturierten‘ oder echten‘ Pädophilen nur einen sehr kleinen Teil der Erwachsenen ausmachen, die sich an Kindern vergehen. Mehr als 95 Prozent der ‚Missbraucher‘ seien ‚normal veranlagt‘. Sie seien psychosexuell nicht auf Kinder fixiert und auch nicht an einer Beziehung mit ihnen interessiert, sondern nutzten bestehende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse aus beziehungsweise wichen in Krisen der Männlichkeit auf Kinder aus“ (o. S.).
Inzwischen ist „Kein-Täter-werden“ an 10 Standorten vertreten und fast 10 Jahre aktiv. An allen Standorten gab es in dieser Zeit ca. 2000 Kontaktaufnahmen, ca. 900 Diagnostiken und ca. 400 Therapieangebote. Wagner (2014) führt aus, ca. 220 hätten die Therapie abgelehnt, fast 100 haben die Therapie abgeschlossen, 34 wären aktuell in Therapie, 51 hätten sie abgebrochen. Es führen also ca. 10 % der Kontaktaufnahmen zu einer Therapie, von denen 25 % abgebrochen werden. Es werden im gesamten Projekt also bisher pro Jahr durchschnittlich 10 Therapien abgeschlossen. Inwieweit diese Therapien als erfolgreich zu betrachten sind, werde ich im nächsten Kapitel beleuchten.
Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung und Äußerungen von Projektvertretern, „Kein-Täter- werden“ sei ein Therapieangebot, das sich an „pädophil“ veranlagte Männer richtet, die noch nicht straffällig geworden sind (Schierholz, 2011), sind im Projekt aktive Täter in der großen Überzahl. In einer Auswertung von 2011 haben von 53 befragten Männern nach Eigenaussage lediglich 12 noch keine Straftaten begangen (Faller, 2014 / Beier et al., 2014). Diese Straftaten sind der Polizei bisher nicht bekannt gewesen (Beier et al., 2014).
Trotz massiven finanziellen Einsatzes der Volkswagen-Stiftung und der Hänsel- und Gretel-Stiftung, trotz Ausbau in acht Bundesländer und staatlichen Zuschüssen, trotz einer von einer großen Werbeagentur gesponsorten Werbekampagne „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?“ – der Bedarf nach therapeutischer Hilfe für „Pädophile“, die unter ihrer Präferenzstörung leiden sowie Unterstützung suchen, bevor sie Taten begehen, ist offensichtlich eher klein. „Pädophile“, die bis zum Ende eine Therapie durchlaufen bevor sie Taten begehen, sind in der Gruppe der Klienten von „Kein- Täter-werden“ eine geringe Minderheit.
Zu Beginn der Studie hatten also nach eigener Aussage 25 der teilnehmenden Männer schon sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausgeübt, 29 hatten Kinderpornographie konsumiert (teilweise waren das dieselben). Von diesen Tätern haben 20 % kontinuierlich während der Therapie weiter sexualisierte Gewalt angewendet und 90 % weiter bildliche Darstellungen sexualisierter Gewalt genutzt. Von einer „Unterbindung wiederholter Formen des Missbrauchs“ – wie in der oben zitierten Selbstdarstellung – kann also auch nach der eigenen Untersuchung von „Kein-Täter- werden“ nicht die Rede sein. Konsequenterweise sprechen Beier et al. (2014) in der zitierten wissenschaftlichen Veröffentlichung dann auch nur noch von einer Reduzierung der „dynamischen Risikofaktoren“.
Wie lange die zum Zeitpunkt des Endes der Therapie nicht aktiven Täter nach der Therapie keine sexualisierte Gewalt begehen, ist vollkommen unklar. Es gibt nach wie vor keinen Versuch einer ernsthaften Kontrolle bezüglich Rückfallquoten. Auch ein Abgleich mit jenen Straftaten, die der Polizei bekannt werden, findet nicht statt, da dieser Abgleich durch die Zusicherung der Verschwiegenheit verhindert wird.
Es gilt weiterhin zu berücksichtigen, dass diese Zahlen ausschließlich auf der Selbstaussage der Täter beruhen, deren Glaubwürdigkeit hinterfragt werden muss. Hindmann und Peters (2001) haben über Jahrzehnte Täter untersucht und ihre Selbstaussagen überprüft. Es stellte sich heraus, dass zwei zentrale Aussagen sich massiv veränderten, wenn die Täter eine Aufdeckung von Lügen in einem Polygraphentest fürchteten: Die Anzahl der eingestandenen Opfer stieg massiv, die Anzahl derjenigen, die behaupteten selber als Kind sexualisierter Gewalt ausgesetzt worden zu sein, sank massiv. Es ist also in Betracht zu ziehen, dass auch bei „Kein-Täter-werden“ Täter das Ausmaß von ihnen verübter, sexualisierter Gewalt eher untertreiben.
Fazit
In meinen Augen wird „Kein-Täter-werden“ im öffentlich-medialen Diskurs, aber auch in Teilen der politischen Entscheidungsgremien überbewertet – sowohl was die Reichweite als auch was den Stellenwert für die Bekämpfung sexualisierter Gewalt angeht.
- Der vorgenommenen Einschätzung, sexualisierte Gewalt sei eine Form von abweichender Sexualität muss widersprochen werden.
- Die Existenz einer Krankheit „Pädophilie“ ist nicht nachweisbar.
-Untersuchungen widerlegen die These von der Unheilbarkeit von sexuellen Präferenzstörungen.
- Der Phallometrie als diagnostisches Instrument mangelt es an Konstruktvalidität und Reliabilität.
- Die Angaben zur Prävalenz von „Pädophilie“ und zum Ausmaß sexualisierter Gewalt sind nicht hinreichend belegt.
- Die originäre Zielgruppe von „Kein-Täter-werden“ wird kaum erreicht.
- Die Zahlen über den Ausgang der Therapie lassen massive Zweifel am Erfolg derselben aufkommen.
- Bei laufenden Straftaten werden keine Schritte zum Schutz der betroffenen Kinder unternommen, vielmehr wird den Tätern Stillschweigen versichert.
Es besteht mittelfristig die Gefahr, dass durch die Fehleinschätzung in Öffentlichkeit und Politik sowohl erprobte primärpräventive Ansätze als auch die bewährte Arbeit mit erwachsenen Täter(innen) sowie übergriffigen Kindern und Jugendlichen herabgesetzt und in der Konsequenz finanziell weiter gekürzt werden.
Die Pathologisierung sexualisierter Gewalt ist eine einfache Antwort auf komplexe Sachverhalte. Dies trägt zur Entlastung vieler bei, indem das Bild entsteht, die Täter haben nichts mit der breiten Masse der Bevölkerung zu tun, sondern sind die bösen Anderen, die Kranken. Dementsprechend werden diese ausgegrenzt. Vor diesem Hintergrund können Vertreter des Projektes „Kein-Täter-werden“ als Schutzherren der zu Unrecht Vorverurteilten auftreten und gewinnen so die liberale Öffentlichkeit, die sich von Vorverurteilung und Lynchjustiz-ähnlichen Zuständen abgrenzen möchte. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Ursachen sexualisierter Gewalt und ein Bekämpfen eben dieser Ursachen findet so im Endeffekt aber nicht statt.