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Bruno
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Lewis Carrolls Epigonen

Beitrag von Bruno »

(Noch) pünktlich zum Alice Day möchte ich eine Liste von bekannten (und tw. vielleicht auch weniger bekannten) Epigonen Lewis Carrolls hier ins Forum stellen. Darunter sind berühmte Persönlichkeiten zu verstehen, die sich selbst explizit in ihrem Schaffen auf Carroll berufen haben oder von anderen explizit mit diesem in Verbindung gebracht worden sind. Dass diese Liste nicht vollständig sein kann, versteht sich von selbst.
Ordnungskriterien sind "Kinderliteratur", "Literatur" und "Wissenschaft", innerhalb dieser Kategorien ist die Chronologie (1860-2000) das Ordnungskriterium. Die Farben der Namen sollen die geistige Nähe zu Lewis Carroll veranschaulichen (grün = nahe, gelb = recht nahe, rot = weiter entfernt, dunkelrot = noch weiter entfernt). In runden Klammern sind nach jedem Namen in der jeweils gleichen Reihenfolge die auf jeweils diese Person bezogene Ausprägung von 6 Kriterien aufgelistet, die für Carrolls Leben und Werk prägend waren (GROSSBUCHSTABEN = STARKE AUSPRÄGUNG, Kleinbuchstaben = geringere Ausprägung, Minus = keine Ausprägung):

1) Affinität zum kindlichen Wesen in Leben und Werk (K oder k oder -)
2) Spirituelles (religiöses) Fundament in Leben und Werk (S oder s oder -)
3) Autistische Persönlichkeitsstruktur (A oder a oder -)
4) Affinität zur formalen Logik (L oder l oder -)
5) Sprache ist nicht nur Material, sondern wird selbst betrachtet (SP oder sp oder -)
6) Explizite Thematisierung von menschlicher Kommunikation und ihrer Problematik (KO oder ko oder -)

somit:
Lewis Carroll (K,S,A,L,SP,KO)

Bei Personen, die sich selbst in ihrem Schaffen explizit auf Carroll berufen haben, steht hinter der runden Klammer: [C]

[Sämtliche Bewertungen sind - wenngleich nach bestem Wissen reflektiert - freilich subjektiv.]

Kinderliteratur:

1860
Edward Lear (k,s,a,-,SP,-)
[viktorianischer "Nonsens"-Dichter ("A Book of Nonsense")]
Wilhelm Busch (k,-,a,-,sp,-)
[deutscher humoristischer und gesellschaftskritischer Zeichner und Dichter]
1870
1880
1890
1900

Frank Baum (K,S,-,-,-,-)
[amerikanischer Schriftsteller ("Der Zauberer von Oz")]
James Barrie (K,S,a,-,-,-)
[schottischer Schriftsteller ("Peter Pan")]
1910
1920

Alan Milne (k,s,-,-,-,-)
[britischer Schriftsteller ("Pu, der Bär")]
Pamela Travers (k,S,-,-,-,-)
[britische Schriftstellerin ("Mary Poppins")]
1930
1940

Antoine de Saint-Exupery (K,S,-,-,-,-)
[französischer Schriftsteller ("Der kleine Prinz")]
Astrid Lindgren (K,S,-,-,-,-)
[schwedische Schriftstellerin ("Pippi Langstrumpf" ua)]
1950
John R.Tolkien (k,S,-,-,sp,-)
[britischer Schriftsteller ("Der Herr der Ringe"), wesentliche Impulse für Fantasyliteratur]
Clive S.Lewis (K,S,a,l,-,-)
[britischer Schritsteller ("Die Chroniken von Narnia" ua), fantastische religiöse Romane]
1960
1970

Michael Ende (K,S,-,L,-,-) [C]
[deutscher Schriftsteller ("Momo", "Die Unendliche Geschichte" ua), fantastische Erzählwerke]
1980
1990

Monika Pelz (k,-,-,-,sp,ko) [C]
[österr. Schriftstellerin ("Lissi im Wunderland" ua), Moderne "Adaption" Carrolls für Jugendliche]
2000

Literatur:

1860
1870
1880
1890

Frank Wedekind (k,s,-,-,-,ko)
[dt. Dramatiker ("Frühl.Erwachen", "Lulu"), thematisiert Triebhaftes und kritisiert bürgerl. Moral]
1900
Arthur Schnitzler (-,-,-,-,sp,ko)
[österr. Schriftsteller, setzt Erkenntnisse Freuds literarisch um, tw. innerer Monolog als Stilmittel]
1910
1920

James Joyce (-,-,-,-,SP,-) [C]
[irischer Schriftsteller ("Ulysses, "Finnegans Wake"), innere Monologe, psychoanalytisch beeinflusst]
Franz Kafka (-,s,a,l,-,KO)
[österr. Schriftsteller ("Das Urteil", "Die Verwandlung" ua), beschreibt individuelle rätselhafte Bedrohungen]
1930
Andre Breton (k,s,-,-,SP,ko) [C]
[französischer Schriftsteller, Begründer des literarischen Surrealismus]
1940
1950

Samuel Beckett (-,-,-,-,sp,ko)
[irischer Schriftsteller ("Warten auf Godot"), menschliches Dasein als absurd dargestellt]
Vladimir Nabokov (k,s,-,-,sp,-) [C]
[russ.-amerik. Schriftsteller ("Lolita"), satirische Durchleuchtung sex.Normen und Verhaltensweisen]
1960
Peter Handke (k,s,-,-,SP,ko)
[österr. Schriftsteller ("Publikumsbeschimpfung", "Kaspar" ua), Wirklichkeitsreflexion durch Sprache]
1970
Arno Schmidt (k,-,-,-,SP,-) [C]
[dt. Schriftsteller ("Zettels Traum", "Julia" ua), assoziative Sprache, psychoanalytisch beeinflusst]
1980
1990
2000


Wissenschaft:

1860
1870
1880

Richard von Krafft-Ebing (-,s,-,-,-,-)
[deutscher Psychiater und Sexualpathologe, definiert erstmals "Pädophilie"]
1890
1900

Sigmund Freud (k,-,-,-,sp,ko)
[österreichischer Psychiater, u.a."Entdecker" der "kindlichen Sexualität"]
Bertrand Russell (-,-,-,L,sp,-)
[britischer Logiker u. Philosoph, Entdecker der "russellschen Antinomie" (Widerspruch durch Selbstbezug)]
1910
1920

Ludwig Wittgenstein (k,S,A,L,SP,ko)
[österreichischer Logiker und Sprachphilosoph ("Tractatus logico-philosophicus")]
1930
Kurt Gödel (-,S,a,L,SP,-)
[österreichischer Mathematiker und Logiker, Begründer des "Unvollständigkeitssatzes"]
1940
1950

Alan Turing (-,-,a,L,SP,-)
[britischer Mathematiker, Untersuchungen über intelligentes Verhalten von Maschinen]
1960
1970
1980

Douglas Hofstadter (-,-,-,L,SP,-) [C]
[amerikan. Kognitionswissenschaftler, Untersuchungen zu Gödel ("Gödel, Escher, Bach")]
1990
Roger Penrose (-,S,-,L,-,-)
[britischer Mathematiker, Untersuchungen über menschliches Denken und Maschinendenken]
2000



Was ist aus dieser Auflistung erkennbar?
Nicht jeder, der sich auf Lewis Carroll beruft oder von anderen mit diesem in Verbindung gebracht wird, weist tatsächlich zwingenderweise eine enge geistige Nähe in seinem Leben und Schaffen zu Lewis Carroll auf. (Das Gleiche gilt freilich auch umgekehrt.)

Möge diese (subjektive) Auflistung helfen, die "wahren" geistigen Nachfolger Carrolls aufzuspüren.

Bin für Kommentare, Korrekturen, Anregungen etc. stets dankbar. :wink:
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JexM
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Re: Lewis Carrolls Epigonen

Beitrag von JexM »

Interessant wäre zu wissen, wer die hier Untersuchten jeweils mit Carroll in Verbindung gebracht hat. Bei manchen Vertretern auf Deiner Liste komme ich da ehrlich gesagt nicht so ganz mit. Handke? Beckett?? Wer bringt die bitte mit Lewis Carroll in Verbindung und warum um alles in der Welt?

Andererseits würde ich bei Milne ("Pu Bär") mindestens Punkt 6. Deiner Vergleichsliste bejahen, vielleicht auch 5.

Aber ein interessanter Ansatz.
Gruß

|J|e|x|M|
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Bruno
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Re: Lewis Carrolls Epigonen

Beitrag von Bruno »

Zu Peter Handke:

Vor allem die programmatische Thematisierung des für das menschliche Individuum existenziellen Aspektes von - einer dem gesellschaftlichen Regelsystem folgenden - Sprache, ist meines Erachtens nach das entscheidende Faktum, das Carroll und Handke inhaltlich miteinander verbindet. Gewissermaßen wird von beiden der Sturz aus dem (kindlichen) Paradies und der damit verbundene drohende Individualitätsverlust als Fall in die (konventionelle) Sprache aufgefasst. Alice wird immer wieder von eben jener Sprache, die die für sie absurd-geregelte (Außen-)Welt kennzeichnet, existenziell bedroht, bis sie am Ende ihre eigenen Regeln über die Regeln der Außenwelt stellt und somit die Außenwelt und das Leben in ihr zum bloßen Spiel (Kartenspiel, Schachspiel) degradieren kann. Handkes (Früh-)Werk lebt von der Darstellung des existenziellen Aspektes von Sprache - auf die Spitze getrieben freilich in "Kaspar": Die "Folterung" Kaspars durch Sprache mit ihren konventionellen Bedeutungen, durchgeführt von im Hintergrund aktiven "Einsagern", macht Kaspar - durch Verinnerlichung der Bedeutungen - zu einem Teil der für ihn ursprünglich vollkommenen fremden Außenwelt. Kaspar kann so in diese Welt integriert werden - allerdings für einen fürchterlichen Preis, der in seinem letzten Satz anklingt: "Ich bin nur zufällig ich."

Zu Samuel Beckett:

Das Verschwinden von (äußerer) Handlung und Entwicklung in den Geschichten zu Gunsten von abstrakt sprachlich ausgedrückten Daseins-Fragmenten und Kommunikationsbemühungen der Figuren ist gewissermaßen Markenzeichen in Becketts Stücken. Hier können wir uns ein wenig an Carrolls Wunderland-Stil erinnert fühlen. Freilich: Den weit verbreiteten Pessimismus in Becketts Stücken teilt Carroll nicht.
Zum anderen ist Beckett als Epigone von seinem irischen Schriftstellerkollegen James Joyce - der sich explizit auf Carroll berief - indirekt mit dem Namen Lewis Carrolls verbunden. Ein direkter Bezug Carroll-Beckett findet sich etwa bei Michael Endes Interpretation von Carrolls Nonsens-Gedicht "The Hunting of the Snark", das M.Ende als - freilich fast 100 Jahre früher entstandenes - spiegelverkehrtes Gegenstück zu Becketts "Warten auf Godot" interpretiert.

Zu Alan Milne:
Andererseits würde ich bei Milne ("Pu Bär") mindestens Punkt 6. Deiner Vergleichsliste bejahen, vielleicht auch 5.


Stimmt schon, bis zu einem gewissen Grad sicherlich. Freilich leben die Geschichten im Hundertsechzig-Morgen-Wald u.a. auch von der Kommunikationsproblematik der Figuren untereinander. Aber diese bleibt meines Erachtens in den Geschichten insgesamt doch vergleichsweise "harmlos", erreicht also letztlich keine essenzielle oder gar existenzielle Bedeutung für eine als echte Identifikationsfigur geeignete Gestalt des Buches. Eine elaborierte, differenzierte Sprachbetrachtung ist bei Milne insgesamt ebenfalls nicht wirklich feststellbar.
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