@Annika:
Es ist für mich unschlüssig inwieweit Freud's Denken damit zu tun hat [...]
Ich versuchte nur zu zeigen, dass Freuds - stark dem Materialismus anhaftende - Denken, in der Erklärung dessen, was den Menschen ausmacht, zwangsläufig an Grenzen stoßen muss. Wenn wir nicht über Freuds Modell hinausdenken wollen bzw. können, dann machen von mir hier gebrauchte Begriffe wie (in die menschliche Geistigkeit) integrierte Sexualität gar keinen Sinn.
In einem ähnlichen Beitrag hatte ich integrierte Sexualität als "originär" also ursprünglich bezeichnet, demnach sind vorpubertäre Kinder "integriert" sexuell. "Abgespalten" hatte ich als "derivativ" bezeichnet, d.h. das Zusammenspiel von pubertärer/nachpubertärer und originärer Sexualität: die hormonell verusachte Erregung (Geilheit) [...]
Dass das - gesund entwickelte - vorpubertäre Kind naturgemäß noch eine integrierte Sexualität aufzuweisen hat, war ja auch eine der Grundaussagen meines Eingangspostings. Im Gegensatz zum Kind ist der jugendliche und erwachsene Mensch bei der Vernachlässigung der Verbindung von Sexualität und Geistigkeit von der Gefahr einer von seinem Geist abgespaltenen, nicht-integrierten Sexualität bedroht, die ihn als Mensch sich selbst gegenüber unfrei macht und in der Entfaltung seines Mensch-Seins hindert. Deshalb meine Feststellung, dass der Kontakt des Erwachsenen mit dem integriert-sexuellen Kind gewissermaßen als Therapie für den (tendenziell mehr oder weniger) abgespalten-sexuellen bzw. von sexueller Abspaltung bedrohten Erwachsenen dienlich sein kann, seine eigene Sexualität in seinen Geist zu reintegrieren bzw. eine (weitere) sexuelle Abspaltung hintanzuhalten.
Carroll hatte die beiden Ebenen (d.h. integrierte und abgespaltene Sexualität, Anm.) miteinander nie in Verbindung gebracht, so konnte er sich auf kindlicher Ebene seiner kleinen Freundinnen erfreuen ohne in Konflikt mit seiner triebhaften Sexualität und dem damaligen sexuellen Imperativ zu geraten. [...] Seine erwachsene Sexualität erlebte er dann (eventuell) mit älteren Mädels.
Anhand der verfügbaren Primär- und Sekundärquellen von und über Lewis Carroll sowie nach allem, was wir über die Persönlichkeitsstruktur von Carroll wissen, ist es tatsächlich so, dass wir annehmen dürfen, dass Carroll explizite Erwachsensexualität (und somit auch abgespaltene Sexualität) im Umgang mit den Kindern nicht an den Tag legte. Dass Carroll seine erwachsene bzw. abgespaltene Sexualität mit älteren - nachpubertären - Mädchen (oder auch erwachsenen Frauen) auslebte, ist durch nichts belegbar. Ausschließen können wir es grundsätzlich nicht, aber es ist wahrscheinlicher, dass Carroll seinen vermutlich auch auftretenden triebhaft bzw. abgespalten-sexuellen Gefühlen ausschließlich autosexuell begegnete. Auch wenn wir annehmen müssen, dass Carroll wohl auch bei sich selbst mit tendenziell bzw. potenziell abgespaltener Erwachsenensexualität (zumindest zeitweilig) konfrontiert war, so sind doch seine essenziellen praktischen und theoretischen Bemühungen, seine Sexualität in sein gesamtes Mensch-Sein zu integrieren, nicht zu übersehen. Die praktische Seite dieser Bemühungen bestand wohl vor allem im Kontakt mit den Kindern bzw. kleinen Mädchen (wie der von mir im Eingangsposting zitierte M. Gardner auch feststellt), die theoretische Auseinandersetzung lässt sich tw. aus seinem literarischen Werk entnehmen, wie ich das im Eingangsposting anhand von "Sylvie und Bruno" dargestellt habe.
Humbert war prinzipiell genauso wie Carroll, nur mehr extrovertiert und er hat beide Ebenen kombiniert. Wie ein 12 oder 15 jähriger Junge der vielleicht feuchte Fantasien und Erfahrungen mit jetzt gleichaltrigen Mädchen hat; nur bei Humbert sind die Wunschbilder oder Typenraster auf kindlichem Niveau geblieben.
Extrovertiertheit versus Introvertiertheit reicht als Erklärung und Kennzeichnung des wesenhaften Unterschiedes zwischen Carroll und Humbert in meinen Augen keinesfalls aus. Wie ich oben dargestellt habe, denke ich, nicht von einem (subjektiv und objektiv) - qualitativ und quantitativ gleichwertigen Vorhandensein "beider Ebenen" (d.h. integrierte und abgespaltene Sexualität) bei Lewis Carroll sprechen zu können, sondern sehe hier die Bemühung um integrierte Sexualität als essenziell vordergründig an. Umgekehrt bezweifle ich, dass die Figur des Humbert mit der Annahme einer (authentischen) Bemühung um integrierte Sexualität kompatibel ist. Vielmehr geht es hier um eine Ausweitung einer tendenziell abgespaltenen Erwachsensexualität auf das noch kindliche Wesen (besser: auf die Kindfrau - d.h. das Mädchen, dass neben seinen kindlichen Merkmalen bereits Anzeichen der Geschlechtsreife aufweisen muss, um attraktiv zu sein - auch das ist ein signifikanter Unterschied zu Carroll). Humbert steht vielmehr als Ausgeburt einer der "Verjugendlichungsideologie" anheimgefallenen modernen Gesellschaft essenziell im scharfen Gegensatz zu dem spirituell-romantisch fundierten Zugang zum wesenhaft-kindlichen Element bei Lewis Carroll.
Ich meine, sagen zu können, dass sich die nahezu fundamentale Zweiteilung in den Carroll-Typus und den Humbert-Typus auch unter jenen Menschen heute widerspiegelt, die sich heute als pädophil oder Girllover bezeichnen bzw. mit diesen sympathisieren. Und ich kann - um zuletzt noch eine explizit subjektive Meinung auszusprechen - nicht umhin, den Pädophilen des Carroll-Typus als den eigentlich authentisch-pädophilen Typus anzusehen, während sich der Humbert-Typus für mich als Ausgeburt einer durch Mitläufertum gekennzeichneten, auf falscher, oberflächlich-unfundierter Freiheitsideologie aufbauenden modernen Gesellschaft darstellt.