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zeder
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von zeder »

Vor einer ganzen Reihe von Jahren bin ich noch mit selbstgemachtem "Alice-Day-Button" rumgelaufen. Heute halte ich´s jedoch etwas dezenter. Wenn sich eine Gelegenheit bietet: frühes Dinner bei Mc D + anschließend Kino etc.
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naylee
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von naylee »

@Bruno:

Wie kommst du darauf, Carroll als Pädophil ohne Wunsch nach sexueller Interaktion zu bezeichnen? Woher weißt du das denn?

Ich habe auch einige Briefe an seine Mädchen gelesen, und auch mal in einem Biographischen Werk über Carroll rumgeblettert. Nicht sehr umfassend, aber es reichte aus um mich vom lernen abzulenken :)

Er hat seine Kinder geliebt, ihre Welt idealisiert und vergöttert. Für mich besteht da gar kein Zweifel. Möglicherweise hat er die Sexualität nie ausgelebt, aber der Wunsch danach wird schon bestanden haben.

Übrigens: ein ganz schönes Buch, die Beziehung von Kindern zu Künstlern betreffend, ist folgendes: Lulu, Lolita

http://www.amazon.de/Lolita-Alice-Leben ... 3934703933
Wie nur kann ich derjenige sein, vor dem die Kinder dieser Welt gewarnt werden, von dem sie sich fernhalten sollen, wenn sie doch meine Gegenwart ganz und gar erbaulich finden?
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Bruno
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von Bruno »

Nun habe ich endlich Zeit gefunden, auf die Entgegnungen zu dem von mir dargestellten Bild von Lewis Carroll einzugehen.

Grundsätzlich ist vorweg unbedingt Folgendes festzuhalten:

Das tw. durchaus mysteriös anmutende Leben und Werk Lewis Carrolls eignete sich hervorragend dazu, von zahlreichen sehr unterschiedlichen Personen und Gruppierungen mit tw. ganz widersprüchlichen Ansichten, Zielen und Ideologien für deren Zwecke vereinnahmt zu werden. Psychoanalytiker versuchten z.B., anhand von Carroll ihre abstrusen Theorien über den angeblich durch den Sexualtrieb determinierten Menschen zu untermauern, die psychedelische Subkultur der 1960er Jahre behauptete, dass Carrolls Leben und Werk durch Drogenerfahrungen bestimmt sei, und manche Autoren - wie etwa D.Hofstadter in seinem berühmten Buch "Gödel, Escher, Bach" - sehen Carrolls Schaffen offenbar primär als Plädoyer für künstliche Intelligenz an. [Auch Vereinnahmungen Carrolls durch das populäre pseudo-philosophische Science-Fiction-Genre (z.B. die Carroll-Zitate in der "Matrix"-Filmtrilogie u.a.) gehen in diese Richtung.] Die Liste der mehr oder weniger absurden Carroll-Interpretationen wäre freilich noch erweiterbar. Dass die Phantasien zur mysteriös anmutenden Figur Lewis Carroll aber tatsächlich keine Grenzen zu kennen scheinen, ist spätestens durch das Buch von R.Wallace klargeworden, in dem der Autor "nachzuweisen" versucht, dass es sich bei Lewis Carroll in Wirklichkeit um niemanden anderen handle als um den berüchtigten Prostituiertenmörder "Jack the Ripper". (Ich will jetzt freilich nicht behaupten, dass ihn viele ernstgenommen haben.)
Jedenfalls sollten wir diese Aspekte im Auge behalten und aufpassen, dass wir nicht in ähnlich absurder Weise Lewis Carroll für unsere Zwecke vereinnahmen (welche auch immer das sind), sei es auch nur durch die unreflektierte Feier des konstruierten Pädo-Feiertages "Alice-Day".

Nun zu den Entgegnungen im Einzelnen:
Khenu Baal hat geschrieben:Ich zweifele keineswegs Deine Carroll-Kompetenz an, jedoch Deine Schlußfolgerungen aus einer mehr als dürftigen Quellenlage. Oder hast Du etwa einen Beleg dafür, daß es zwischen ihm und Alice, wenn sie allein waren, sowie bei den zahlreichen Fotoshootings nicht zu Dingen kam, die ihn sehr eindeutig als pädosexuell klassifizieren? Das sollte mich bei der Vernichtungswut seiner Familie mächtig überraschen :P .
naylee hat geschrieben:@Bruno:
Wie kommst du darauf, Carroll als Pädophil ohne Wunsch nach sexueller Interaktion zu bezeichnen? Woher weißt du das denn?[...]
Er hat seine Kinder geliebt, ihre Welt idealisiert und vergöttert. Für mich besteht da gar kein Zweifel. Möglicherweise hat er die Sexualität nie ausgelebt, aber der Wunsch danach wird schon bestanden haben.
Zur angesprochenen angeblichen "Vernichtungswut" bezüglich der Carroll-Primärquellen durch Carrolls Nachkommen wäre festzuhalten, dass es keinesfalls bewiesen ist, dass die Unvollständigkeit von Carrolls Tagebuch-Bänden auf bewusste Beseitigung einzelner Bände zurückzuführen sei. Als mindestens ebenso wahrscheinlich muss die triviale Tatsache gelten, dass diese einfach durch achtlosen Umgang verloren gegangen sind. Dass die einzelnen - insgesamt jedoch sehr wenigen - fehlenden Seiten in den vorhandenen Tagebuch-Bänden im Nachhinein von Carrolls Nachkommen bewusst entfernt wurden, ist hingegen naheliegender (wenngleich auch nicht bewiesen). Zu Spekulationen hat insbesondere das in der Ursache ungeklärte Zerwürfnis Carrolls mit der Familie Liddell (den Eltern von Alice Liddell) ein Jahr nachdem Carroll für Alice die "Alice-Geschichte" erfand, Anlass gegeben und die Tatsache, das ausgerechnet jene Tagebuchseite, die vermutlich darüber Auskunft geben könnte (vom 27.6.1853), eine jener Fehlseiten ist.

Manche Carroll-Biographen vermuteten z.B., dass Carroll einen Heiratsantrag an die damals 11-jährige Alice Liddell gemacht oder seine Zuneigung zu ihr den Eltern zu offen zur Schau gestellt haben könnte. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass Heiratsabsichten an sehr junge Mädchen damals grundsätzlich keine große Seltenheit waren und das heiratsfähige Alter der Mädchen offiziell bei 12 Jahren lag. [Carrolls jüngerer Bruder Wilfried z.B. verliebte sich im Alter von knapp 30 Jahren in ein 14-jähriges Mädchen und wartete nur deswegen noch einige Jahre mit der Heirat, da seine finanzielle Grundlage noch sicherer werden musste.] Wenn also Carroll - wie einige Biographen mutmaßten - den Dekan Mr. Liddell um Erlaubnis gebeten hätte, seine Tochter Alice zu heiraten, so wäre das grundsätzlich kein sehr ungewöhnlicher Vorgang gewesen. Durch die Erklärung der Heiratsabsicht der fast schon 12-jährigen Alice oder auch durch äußere Anzeichen des Verliebtseins hätte sich Carroll keinesfalls zwingend als pädophil geoutet. (bzw. auch nicht als jemand mit anderen oder sonderbaren sexuellen Vorlieben oder dgl., den Begriff "pädophil" gab es ja ohnehin noch nicht) Und dass eine zu starke Annäherung an Alice oder gar pädosexuelle Handlungen Carrolls der Grund für das Zerwürfnis mit der Familie Liddell gewesen sein könnten, ist reinste Spekulation, durch nichts bewiesen und aufgrund sämtlicher vorhandener Quellen als unwahrscheinlich einzustufen. Anzunehmen ist hingegen, dass der Dekan vermutlich aufgrund der Kluft im sozialen Status zwischen seiner Familie und Carroll dessen Bitte, seine Tochter zu ehelichen, nicht akzeptieren hätte können, was die Verstimmung zwischen der Liddell-Familie und Carroll ausgelöst haben könnte.

Nach heutigem Wissenstand gilt aber generell der Zusammenhang zwischen dem Zerwürfnis mit der Familie Liddell und Carrolls Beziehung zu Alice eher als unwahrscheinlich. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Mrs. Liddell (die das Leben und die Zukunft ihrer Töchter in recht autoritärer Weise weitgehend selbst bestimmen wollte) sich Sorgen um etwaige Klatschgeschichten im Zusammenhang mit Carrolls häufigem Umgang mit ihren Töchtern machte, da die älteste (Lorina) nun mit 14 Jahren gerade KEIN Kind mehr war. Carroll, der bekanntlich recht schnell beleidigt reagierte, wird ev. durch seine Reaktion die Kontroverse verschärft haben.

Vermutlich hat also das Zerwürfnis mit der Familie Liddell weitaus unspektakulärere Gründe als manche Interpreten und Spekulanten sich zusammenreimen wollten bzw. immer noch wollen.

Was Carrolls 25 Jahre lang intensiv praktizierte Fotografie von kleinen Mädchen - in tw. aufwändigen Kostümen und auch nackt - betrifft, so ist festzuhalten, dass diese (auch die Nacktfotografien) durchaus im Trend der Zeit lagen. Darstellungen nackter Kinder - v.a. kleiner nackter Mädchen ("in natürlicher Unschuld") - waren in der viktorianischen Kunst sehr beliebt. (z.B. bei den Präraffaeliten oder bei Fotografen wie O.G.Rejlander und J.M.Cameron, auch auf populären Grußkarten u.a.)
Gleichzeitig ist aus dem Briefverkehr zwischen Carroll und Eltern der von ihm fotografierten Kinder bekannt, dass es in einigen Fällen auch Kontroversen zwischen Carroll und den Eltern der Kinder aufgrund unterschiedlicher künstlerischer und moralischer Auffassungen gab. Dass Carroll jedoch offensichtlich stets das Einverständnis der Eltern einholte, wenn er Nacktaufnahmen von den Mädchen machte, ist aufgrund des umfangreichen erhaltenen Briefwechsels offenkundig. Und dass es im Zusammenhang mit Carrolls Mädchenfotographie pädosexuelle Aktivitäten gegeben haben könnte, ist durch nichts belegbar und auch nicht anzunehmen. Wie aus zahlreichen Briefwechseln ersichtlich, lud Carroll auch die Eltern der Kinder, wenn sie dabeisein wollten, zu den Fototerminen mit den Mädchen ein. Und bei vielen Fototerminen war auch die mit Carroll befreundete Malerin G.Thomson mit anwesend (die selbst zahlreiche Bilder von nackten Kindern malte).

Es bleibt festzuhalten:
Die Annahme, dass Carrolls Leben durch pädosexuelle Aktivitäten oder auch nur dem Wunsch nach diesen geprägt war, ist - ebenso wie andere abstruse (tw. oben aufgelistete) Carroll-Interpretationen, die dem Selbstverständnis bestimmter Einzelpersonen oder "Lobbies" entsprungen sind - reine Spekulation ohne reales Fundament.


So manche Carroll-Interpreten wollen bei Carroll nicht nur unbedingt Dinge sehen, die in seinem Leben höchstwahrscheinlich überhaupt keine oder zumindest keine wesentliche Bedeutung hatten (wie z.B.Pädosexualität) sondern sie wollen oder können auch jene Dinge NICHT sehen, die in Carrolls Leben - und hier im Zusammenhang mit seinen Mädchenbeziehungen - ganz offensichtlich eine ESSENZIELLE Bedeutung hatten: Nämlich die - aus Carrolls Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, literarischem Werk und anderen Quellen herauslesbare - Tatsache, dass die Attraktivität des kleinen Mädchens bei Carroll ganz offensichtlich UNTRENNBAR an sein religiös-spirituelles Weltbild gebunden war und unmittelbar an das romantische Bild vom unschuldigen-gottnahen Kind anknüpfte. Das noch unverbildete, authentische Kind war für Carroll - ebenso wie für die Romantiker - ein Spiegel der eigenen, verlorenen Vergangenheit, dessen Konfrontation für den erwachsenen Menschen im religiösen Sinne heilbringend wirken konnte, da es diesen auf dem Weg in eine zweite höhere (wiedergewonnene) Kindheit führen kann.
Eine der zahlreichen einschlägigen Formulierungen Carrolls lautet beispielsweise folgendermaßen: "I have been largely privileged in t?te-?-t?te intercourse with children. It is very healthy and helpful to one's own spiritual life: and humbling too, to come into contact with souls so much purer, and nearer to God, than one feels oneself to be".

Nur wer sich mit diesen Kernelementen in Carrolls Leben und Werk identifizieren kann (und nicht mit einer in Carrolls Leben künstlich hineinkonstruierten und übergewichteten Pädosexualität), der kann - wenn er möchte - berechtigterweise den "Alice-Day" feiern.
Letzteres ist freilich nur meine persönliche Meinung.
naylee hat geschrieben:Übrigens: ein ganz schönes Buch, die Beziehung von Kindern zu Künstlern betreffend, ist folgendes: Lulu, Lolita [...]
Dieses Buch kenne ich. Es ist recht populär gehalten aber doch auch informativ und nett zu lesen.
[ Lavizzari, Alexandra: Lulu, Lolita und Alice. Das Leben berühmter Kindsmusen. Berlin 2005 ]

Hier ist weitere einschlägige Literatur:

Cohen, Morton N.: Lewis Carroll. A Biography. New York 1995
Gardner, Martin: The Annotated Alice. Harmondsworth 1970
Higonnet, Anne: Pictures of Innocence. The History and Crisis of Ideal Childhood. London 1998
Kleinspehn, Thomas: Lewis Carroll (Rowohlts Monographien 50478). Reinbek bei Hamburg 1997
Robson, Catherine: Men in Wonderland. The lost Girlhood of the Victorian Gentleman. Princeton N.J. 2001
Taylor, Roger und Wakeling, Edward: Lewis Carroll. Photographer. Princeton N.J. u.a. 2002
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Sakura
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von Sakura »

Hallo Bruno,

es ist langsam ermüdend, immer wieder deine gewaltsamen Umstrickversuche jeder Äußerung von Pädo!*SEX*!ualität in Religionskleister zu lesen :roll:

Bei Wikipedia, dem man wirklich keinen auch nur ansatzweise kritischen Umgang mit aktueller Moral unterstellen kann, heißt es:
Wikipedia hat geschrieben:Seine Fotos nackter Kinder schienen lange Zeit verloren, doch sind sechs erhalten geblieben. Sie waren die Ursache von Vermutungen über Carrolls pädophile Neigungen; in diesem Sinn äußerte sich unter anderen Morton N. Cohen in seiner Biografie über Carroll aus dem Jahr 1995. In Carrolls Briefsammlung Briefe an kleine Mädchen sowie auch in seinen Tagebüchern wird offensichtlich, dass er kleine Mädchen über ein gesellschaftskonformes Mass hinaus gern hatte; er hat jedoch seine Neigungen nie tatsächlich ausgelebt.
Und beflissen (man will ja nicht als Missbrauchsverharmloser oder sonstiger kritischer Schreiber bei Wikipedia rausgeekelt werden!) wird gleich hinzugefügt:
Diese Art des Missbrauchs, der sich auf das Sehen reduziert, vereinnahmt und benutzt gleichwohl sein Objekt.
Komisch, dass alle Indizien für eine nicht angemessene Zuneigung zu kleinen Mädchen aus Carrolls Nachlass vernichtet wurden. Gerade deshalb haben es die oberflächlichsten vereinnahmer von Carroll so leicht, ihre eigenen religiösen Zwangsvorstellungen in seine Restbiographie hinein zu interpretieren.

Sakura
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MeeM
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von MeeM »

Ach du liebe Güte :lol: Wikipedia als (verlässliche) Quelle :shock: :lol: Sorry, aber das finde ich mehr als lustig.


Wobei ich mal so von aussen betrachte sagen muss dass das was Bruno da von Caroll zitiert hat manchen Äusserungen hier sehr ähnelt und einer Pädophilen Neigung bei Caroll bei weitem nicht wiederspricht. Immerhin gibt es hier ja auch verschiedenste Auffassungen davon was Sex mit einem Kind ist, wie weit es geht etc. das Caroll Zitat kann sowohl so interpretiert werden dass es sexuellen Kontakt gab, oder aber auch genau andersherum.

Caroll war ja wohl wirklich nicht der einzige in der Geschichte, der nackte Kinder fotografiert, oder gezeichnet hat. Der Einfachheit halber sagen wir mal abgebildet. Noch heute, oder von mir aus auch gerade heute ist Aktfotografie bei den einen Konst, bei den anderen nicht. Ich kann mir gut vorstellen dass es damals ähnlich war.


MeeM
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Bruno
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von Bruno »

@Sakura:
Sakura hat geschrieben:
Wikipedia hat geschrieben: Seine Fotos nackter Kinder schienen lange Zeit verloren, doch sind sechs erhalten geblieben. Sie waren die Ursache von Vermutungen über Carrolls pädophile Neigungen; in diesem Sinn äußerte sich unter anderen Morton N. Cohen in seiner Biografie über Carroll aus dem Jahr 1995. In Carrolls Briefsammlung Briefe an kleine Mädchen sowie auch in seinen Tagebüchern wird offensichtlich, dass er kleine Mädchen über ein gesellschaftskonformes Mass hinaus gern hatte; er hat jedoch seine Neigungen nie tatsächlich ausgelebt.
Dass bei Carroll eine pädophile Neigung im Sinne einer emotionalen und (im weiteren Sinne) erotisch gefärbten Zuneigung zu kleinen Mädchen vorhanden war, erscheint offensichtlich und ist von mir nirgends in Abrede gestellt worden. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich hier wohl um einen essenzieller Bestandteil von Carrolls Persönlichkeitsstruktur.
Und dass Carrolls Umgang mit den Kindern zeitweilig an der Grenze der damaligen Gesellschaftskonformität lag, lässt sich ebenso aus den vorhandenen Quellen entnehmen, wie auch, dass diese Tatsache ein Konfliktpotential mit sich brachte. Dieses aber auf pädosexuelle Aktivitäten oder Wünsche Carrolls zurückzuführen, ist - ich sage es nocheinmal - rein spekulativ und ohne reale Grundlage.
Komisch, dass alle Indizien für eine nicht angemessene Zuneigung zu kleinen Mädchen aus Carrolls Nachlass vernichtet wurden.


Wurden sie gar nicht. Aus dem erhaltenen Briefverkehr können wir mehrere Konfliktsituationen analysieren, die wohl mit einem als nicht angemessen empfundenen Umgang mit Kindern, nichts aber mit Pädosexualität zu tun haben.

Z.B. schreibt Carroll Folgendes an eine Mutter: Er habe ein kleines Mädchen (Atty Owen) beim Verabschieden auf die Wange geküsst, wie dies bei vielen seiner Kinderfreundinnen üblich war. Er habe erst später vom Vater erfahren, dass Atty, die er auf maximal 14 Jahre geschätzt habe, bereits 17 Jahre alt war. Die Eltern von Atty waren auf Carroll seitdem nicht mehr gut zu sprechen. Carroll schrieb: "I met Mr. S. Owen a few days ago and he looked like a thundercloud [...] not only by having given fresh offence - apparently - by asking leave to photo Atty [...] but also by the photos I have done of other people's children. Ladies tell me, 'people' condemn those photographs in strong language; when I enquire more particularly, I find that 'people' means 'Mrs. Sidney Owen'! It is sad.".

Carroll vermied es generell, ohne Rücksprache mit den Kindern und deren Eltern die getätigten Nacktaufnahmen der Mädchen an andere Personen weiterzugeben. So schrieb er z.B. an eine Mutter: "If I may keep prints of them, the next question is, may I show them to anybody? My own idea would be to put them among the others I have done of the same kind (some in less dress), and then they would be only shown on exceptional occasions and to exceptional friends."

An eine andere Mutter schrieb Carroll: "I write to ask if you would like to have any more copies of the full-front photographs of the children. I have 2 or 3 prints of each, but I intend to destroy all but one of each. This is all I want for myself, and (though I consider them perfectly innocent in themselves) there is really no friend to whom I should wish to give photographs which so entirely defy conventional rules. [...] The negatives are already destroyed."

Aus eben diesen Gründen wurden auch die entsprechenden Bilder zum einen Teil noch von Carroll selbst vor seinem Tod, zum anderen Teil auf Carrolls Wunsch hin von seinen Testamentsvollstreckern nach seinem Tod vernichtet. Nur ganz wenige haben - durch Zufall - überlebt.
[...] haben es die oberflächlichsten vereinnahmer von Carroll so leicht, ihre eigenen religiösen Zwangsvorstellungen in seine Restbiographie hinein zu interpretieren.
Ein großes Problem besteht vielmehr darin, dass bei einem atheistischen Weltbild ein Großteil von Carrolls Leben und Werk komplett ignoriert oder uminterpretiert werden muss, um sich überhaupt auf ihn als Pädo-Repräsentanten berufen zu können. Das bezieht sich insbesondere auch auf das im Essay über den "Alice-Day" zitierte Hauptwerk Carrolls "Sylvie und Bruno", das in den Augen des Atheisten ja nur als im Kern auf "religiösen Zwangsvorstellungen" fußend angesehen werden kann, die ohne eine vollkommene Uminterpretation nicht eliminierbar sind.


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Quelle der Briefzitate:

Carroll, Lewis: The Letters of Lewis Carroll. 2 Volumes. Edited by Morton N. Cohen with assistance of Roger Lancelyn Green. London 1979
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Khenu Baal
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Re: Wie geht ihr mit dem Alice Day um?

Beitrag von Khenu Baal »

Hab's zur Kenntnis genommen, Bruno. Vor allem ist mir Deine mutmaßliche Intention nun endlich aufgegangen...
Wie auch immer - für mich sind die Begriffe Pädophilie und Pädosexualität inhaltlich grundsätzlich deckungsgleich, womit ich mich auf der sachlichen, wissenschaftlichen Ebene befinde. Was Du daraus zurechtzimmerst, ist mir ziemlich brenne. Ob Carroll (Pädo-Repräsentant? Wie kommst Du'n darauf?) nun Kinder gefickt hat oder nicht ändert an seiner offensichtlichen Grundausrichtung überhaupt nichts. Aber danke für die lesenswerten Postings in diesem Fred!
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