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Fetzer
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Was ist nun Pädophilie genau!

Beitrag von Fetzer »

Einige Gedanken die mir in den Sinn kommen, beim Lesen des Textes "Wie frei macht Pädophilie?"
auf der Seite: http://www.emma.de/artikel/wie-frei-mac ... lie-264316
Auslöser ist die Diskussion im GLF: Arena www.pädophilie-irrtümer.de
Wenn mal wieder die Rede von Opfer ist was Sexualität angeht und woraus sich nur zu gerne ein starres übergewältigendes Schutz... Bedürfnis in Form von "Jetzt muss ich meine Misshandlung meiner Kindheit mal endlich wieder Platz verschaffen" breit macht, dann gleicht dies unserem konsumverhalten!
Der Textauslöser:
[Alice Auch ich stelle mir so manchen pädophilen Lebenslauf tragisch vor. Nur muss ich als Frau sagen: mich interessieren zunächst die Opfer der Opfer. Und genau von ihnen redet in dieser ganzen pseudo-pro-gressiven Diskussion niemand mehr. Da werden die Bedürfnisse von Erwachsenen einfach gleichgesetzt mit denen von Kindern. Da gebärden sich die Pädophilen-Gruppen ganz einfach als Kinderbefreier - und das ist das Verlogenste an der ganzen Debatte: hier geht es nicht um die Sexualität von Kindern, sondern um die Sexualität von Erwachsenen, die es gern mit Kindern machen.]
Ein weiterer Text aus dieser Diskussion Wie frei macht Pädophilie?" dem ich gerne meine Gedanken vor schütten könnte ist:
[Günter Eine These, die auch ich nahe liegend finde. Nur - lass uns erst mal genau definieren, was wir unter Pädophilie verstehen. Ich verstehe darunter die Sexualität von Erwachsenen mit vorpubertären Mädchen und Jungen. Noch deutlicher: Es handelt sich um eine zwanghafte und ausschließliche Fixierung auf kindliche Sexualobjekte. Wichtig ist auch, zu sagen, dass es sich hier nicht primär um ein Problem von Homosexuellen handelt...]
Was ist nun Pädophilie genau?
Meine Ansicht gelangt dahin, dass Pädophilie nichts anderes, als eine Möglichkeit bereit stellt sich gegen noch bestehende Ungleichheiten zur Wehr zu setzen (von vielerlei vergangenen).
Prinzipiell kursiert pädophiles Gedankengut tatsächlich nur in den Momenten wenn ein Familiärer Rahmen sich nach außen orientiert, wobei erst mal unbeachtet der gegebenen Situation "ob sie sich öffnet oder in Abhängigkeit diesem Ereignis hingibt".
Sozusagen das Kippen der Kindlichen Sexualität in die Außenwelt (Gesellschaft)!
(Im Bezug auf die große Annahme der Tabuisierung der Kindlichen Sexualität finde ich herrscht ein absolut verfehlte Vorstellung in Kreisen von Menschen die sich sexuell zu Kindern offen bekennen. Es gibt jene die es gut leugnen können und andere die es ehrlich betrachten. Wobei Kindern, im Familiären Rahmen niemals ihre Sexualität im Ganzen entzogen werden könnte. Wohlmöglich ist nicht nur das Wort Pädophilie in Gedanken und Ausdruck eine Irrfahrt für die Menschheit, ebenso kann das Wort Sexualität und nach dem bestehenden Zeitgeist abstufend weitere Wörter zu dieser Irrfahrt aufgeladen werden)
Erste präsente Wesen sind dann im nahen Umfeld vertraute heranwachsende, Erwachsene und reglementiert Institutionelle, als geeignet erscheinende Erzieher [...]
[Ja, die Mods hier nehmen mir alle meine Lieblings Puppen! Hab fast keine mehr! Und eine beschwerdestelle für meine Anliegen gibts hier nicht!
Sollt doch nur hin weislich an die Mods sein! Schuldige @medic ]
"Psychoanalyse ist die Geisteskrankheit, für deren Heilung sie sich hält"

_____________________________________________Karl Kraus 1899
Fetzer
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Re: Was ist nun Pädophilie genau!

Beitrag von Fetzer »

Autor und Originalquelle nachträglich eingefügt:
Rainer Dollase
http://pub.uni-bielefeld.de/luur/downlo ... Id=2313905
GLF-Modz


10. Grenzen pädagogischer
Einflußmöglichkeiten im Kleinkindalter
Rainer Dollase
„Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgestalteter Kleinkinder und meine eigene Umwelt, um sie aufzuziehen, und ich garantiere, irgendeines aufs Geratewohl neh¬men und nach meiner Wahl zu jeglichem Spezialisten heranbilden zu können - Arzt, Anwalt, Kaufmann, Prinzipal und, jawohl, und sogar zum Bettler und Dieb, unab¬hängig von seinen Talenten, Besonderheiten, Neigungen, Fähigkeiten, Berufenheiten und der Rasse seiner Vorfahren" (vgl. Allport 1937, 103).
Mittlerweile wird jeder interessierte Laie dieses oder ein ähnlich klingendes, hoffnungsfroh milieupositivistisches (behavioristisches) Zitat kennen, das eine noch nicht beendete Epoche von Pädagogik und Psychologie kennzeichnet. Der Mensch ist durch die Umwelt -geformt, bei entsprechender Organisation von Erziehung und Bildung, bei entsprechender Umweltgestaltung ist die totale Manipulierbarkeit des Lebenslaufes gegeben - so die vereinfachte und heute schon naiv klingende "Grundthese. Wirkung und Effektivität wird den pädagogischen Maßnahmen ausnahmslos unterstellt, erst recht dann, wenn es sich um ein Trainingsprogramm für isolierte Kompetenzen handelt. Aber nicht immer:
„Und damit bin ich bei der nächsten merkwürdigen Vorstellung im Vorwurf gegen die Trainingsprogramme angelangt. Diese besagt nämlich, daß es möglich ist, mit logischem Spielzeug bei den Kindern auch logisches und abstraktes Denkvermögen herzustellen. Dafür haben wir aber bis heute keinen Beweis, während zugleich etliche Zeitgenossen mit logischem und abstraktem Denkvermögen herumlaufen, die in ihrer Kindheit logisches Spielzeug niemals zu Gesicht bekommen haben. Diese Tatsache verweist darauf, daß die wirklichen Lebensprozesse, in denen Kinder logisches Denkvermögen erwerben können, in dem Präsentieren von logischen Blöcken nicht aufgehen und selbst erst einmal zureichend bestimmt werden müssen. Gerade das aber hat bisher auf seiten der Personen, denen die Millionenbeträge für Trainingsprogramme zufließen, nicht stattgefunden. Aber - so könnte die Gegen¬frage lauten - warum gibt es dann überhaupt die Trainingsprogramme, wenn sie die benötigten Fähigkeiten gar nicht bewirken?" (Heinsohn 1975, 45 f.).
Die beiden Zitate leiten zur Frage nach der Leistungsfähigkeit erziehungs- wissenschaftlich fundierter Vorhaben und zur präzisen Bestimmung der Machbarkeits- und Steuerbarkeitsgrenzen von Sozialisation. Zugleich aber wird deutlich, wie grundlegend und für den Bestand der Pädagogik, Psycho¬logie und Soziologie zentral die Frage eigentlich ist: Was leistet die Disziplin? Was kann, was könnte die vereinte fadiwissenschaftliche Kompetenz für die Gesellschaft und für das einzelne Kind leisten?
I. Zur Leistungsfähigkeit des Erziehungssystems
Vor Jahren wurde die Öffentlichkeit durch die „Frühlesebewegung", durch reißerisch aufgemachte Meldungen der Tagespresse über früh lesende, schrei-bende und rechnende Kleinkinder in Aufruhr versetzt (vgl. Schmalohr 1971, 29 ff.). Seither ist die pädagogische Idee der Annäherung an eine obere Grenze lebendig, das optimal Erreichbare ist Ziel und Vision theoretischer wie praktischer Arbeit. Was „Wunderkinder" können, das sollte doch zu¬mindest näherungsweise auch bei allen Kindern erreichbar sein. Die Frage nach dem optimal und normalerweise Möglichen kann zunächst mit einigen Alltagsweisheiten beantwortet werden, die der wissenschaftlichen Referenz nicht mehr unbedingt bedürfen. Normalerweise gelingt es jedem Gesellschaftssystem, auch denen vergangener sog. „Naturvölker", den eige¬nen Nachwuchs so zu erziehen, daß dieser die vorfindlichen Kenntnisse erwerben und die gesellschaftlichen Einrichtungen übernehmen kann. Die dem menschlichen Organismus eignende „Intelligenz" käme auch in einer Gesellschaft ohne Schule zur Entwicklung - Kinder lernen sprechen, lesen, schreiben, denken und kooperieren auch ohne Berufspädagogen. Die Abhebung der berufspädagogischen Leistungsfähigkeit von der allgemein qualifizierenden Wirkung der jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt kann allerdings nur noch im Element arber eich in einem direkten Vergleich ge-schehen — etwa beim Vergleich der Grundschulbewährung von im Kleinkind¬alter familial und institutionalisiert erzogenen Kindern. Wie bekannt, gibt es bei diesen Vergleichen stets „hochsignifikante Unterschiede" und „ein¬drucksvolle Resultate", mit denen Wissenschaft und Bildungspolitik gern die eigene Wichtigkeit bzw. die Dringlichkeit ihrer Forderungen begründen. Eine sehr gründlich durchgeführte Untersuchung aus jüngster Zeit (Winkelmann/ Holländer/Schmerkotte/Schmalohr 1977) kommt zu ähnlich signifikanten Resultaten, im Unterschied zu vielen anderen Studien äußern sich die Auto¬ren jedoch nidit nur zur Signifikanz, sondern auch zur Relevanz der Unter¬schiede (1977, 362f.):
„Von ihrem Ausmaß her waren die kognitiven Entwicklungsvorteile der ,Experi- mentalkinder* gegenüber den ,Kontrollkindern' nicht so groß, wie man vielleicht hätte erwarten können. Das wurde vor allem deutlich, wenn die Ergebnisse entspre¬chend dem familialen Sozialstatus und dem genauen Alter in Monaten kovarianzana- lytisch korrigiert wurden. Gerade im Falle einer solchen Adjustierung ergab sich für viele Testvariablen überhaupt kein signifikanter Unterschied zwischen den vier Gruppen (ehemalige Modellkindergartenkinder, ehemalige Vorklassenkinder, zwei
Kontrollgruppen). Bemerkenswerterweise trifft dies auch für den Intelligenzquo¬tienten zu. .. . Besonders bemerkenswert ist das folgende Ergebnis: In den kogniti¬ven Fähigkeiten und Fertigkeiten, die als typisch schulisch gelten und im 1. Schuljahr gezielt unterrichtet werden, gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den ,Experimentalkindern' (Kindern, die im Modellversuch gefördert worden waren) und den ,Kontrollkindern' (Kinder ohne jede institutionalisierte Vorschulbildung). Das gilt für das Lesen, das Schreiben, für Mengenoperationen im Sinne der soge¬nannten Mengenlehre und für das Zahlenrechnen."
Maximal 6 °/o der (meist kaum mehr als 3 °/o) Varianz in den verschiedenen Testwerten wird durch die Tatsache familialer oder institutionalisierter Ele-mentarerziehung erklärt. „Dies erscheint wenig, wenn man bedenkt, daß es sich um den Effekt von bis zu drei Jahren (genauer: 1 bis 3 Jahren) institu¬tionalisierter Vorschulerziehung handelt" (Winkelmann, u. a. 1977, 344). Man sieht an diesem Beispiel zweierlei. Zunächst einmal wird die begrenzte Leistungsfähigkeit des berufspädagogischen Systems im Kleinkindalter deut¬lich. Ob ein Kind damit in Kontakt kommt oder nicht, hat auf seine Lei¬stungsfähigkeit im Durchschnitt nur einen sehr geringen Effekt, der mit „bloßem Auge" wohl kaum erkannt werden kann. Zum anderen wird sicht¬bar, daß zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit Kommunikations¬barrieren bestehen, die verhindern, daß der jeweilige Leistungsstand einer Disziplin transparent wird.
Zunächst einmal ist festzuhalten, daß Erziehungsinstitutionen eigentlich nicht aus pädagogischen, sondern aus gesellschaftlichen Gründen entstanden sind - ihre Leistungsfähigkeit, ihre Fähigkeit, es besser als die Eltern machen zu können, ist somit ein historisch sekundärer Aspekt (vgl. Heinsohn/Knieper 1976, 20). Neben der „Qualifikation* hat das System die Funktionen der „Selektion" und „Legitimation" (vgl. u.a. Fend 1976, 116ff.). Insofern ist es eigentlich schon erstaunlich, wenn vorschulische Erziehungsinstitutionen nicht schlechter sind als die Familie (da sie sich durch die Erziehung der Kin¬der in Gruppen neue Probleme schaffen) oder — anders gewertet - kein Wun¬der, daß sie besser sind, wenn man an die sich auflösende Organisationsform Familie mit ihren vielfältigen Schwierigkeiten denkt. Für eine Bewertung des Leistungsstandes einer pädagogischen Teildisziplin ist deshalb die Leistungs¬fähigkeit von Institutionen zwar wichtig und realistisch, aber die optimalen Möglichkeiten der Ausbildung von Qualifikationen sind damit nicht zu er¬ahnen.
Zugleich ist aber eine zu starke Abstraktion von der Realität zur Abschät¬zung optimaler Leistungsfähigkeit so unrealistisch wie nichtssagend. Fordert man zur Herstellung optimaler Bedingungen z. B. die in Pädagogik promo¬vierten Eltern mit viel Liebe zum Kind, unbeschränkter Zeit in kinderfreund¬licher Wohnwelt etc., so ist das zur Zeit nicht nur unrealistisch, weil diese Bedingungen in Kürze nicht für alle zu schaffen sind und ein in derartiger Umwelt aufwachsendes Kind sich in der normalen Umwelt u. U. nicht zu¬rechtfindet, sondern für die Frage nach den Grenzleistungen der Pädagogik auch nichtssagend, weil die Optimierung der Bedingungen gerade nicht die Fähigkeiten offenbart, die in Auseinandersetzung und Anpassung an un¬günstige Bedingungen entwickelt werden (z. B. sonderpädagogische Ma߬nahmen, Gewährleistung einer relativ normalen Entwicklung unter entwick- lungsschädigenden Bedingungen in unseren Großstädten etc.). Leistung zeigt sich also auch in der Kompensation von Bedingungsmängeln, im Fertigwer- den mit Schwierigkeiten und nicht nur unter „optimalen" Bedingungen, die gar eine spezifisch erzieherische Inkompetenz ausgleichen können (beides zu erreichen - optimale Bedingungen wie erzieherische Kompetenz - ist fraglos erwüns«ht ...).
Mit der Widerständigkeit der Realität (die umzugestalten allerdings auch Aufgabe der Pädagogik sein könnte) und der gesellschaftlichen Funktion des Erziehungssystems sind zwei wichtige grenzbestimmende Faktoren pädagogi¬scher Einflußmöglichkeiten genannt. Innerhalb dieser Grenzen und unter Einbeziehung derselben entstehen die Bemühungen der Pädagogik um Ver¬besserung ihrer qualifizierenden Kompetenzen.
II. Grundzüge eines formalen Erklärungs- und Handlungsmodells
Um eine Verständigungsbasis für Grenzprobleme pädagogischer Einflußmög-lichkeiten zu haben, ist es sinnvoll, an einem formalen Modell, das sowohl Verhalten erklären als auch pädagogische Handlungen begründen soll, bis¬herige und denkbare zukünftige Bemühungen einzuordnen. Dabei muß in einer Weise abstrahiert werden, die komplizierte und tatsächlich differen¬ziertere Theorien, Modelle und Konzepte als recht einfach erscheinen laßt. Ein Verhalten (oder eine Reihe von Verhaltensweisen) - so die Grundthese - ist durch verschiedene Faktoren bedingt, die zueinander in einem komplizier¬ten Wechselverhältnis stehen können. Die Behauptung einer „multifaktoriel¬len Genese" eines Verhaltens ist heute weitgehend unbestritten - die empiri¬sche Grundlagenforschung kann sich damit ebenso identifizieren wie der interpretativ arbeitende Pädagoge oder der Praktiker. In seiner (auch mathe¬matisch formulierbaren) vollständigen Fassung enthält dieses multifaktorielle Modell eine Reihe von Grundideen, die sich in vielen psychologischen, sozio¬logischen und pädagogischen Theorien wiederfinden lassen:
- Verursachung eines Verhaltens aus einer endlichen Anzahl einzelner Fak¬toren in jeweils unterschiedlicher Ausprägung;
- das Verhältnis dieser Faktoren zueinander kann vielfältig gestaltet sein, z. B. additiv (einander unterstützende, verstärkende Faktoren), subtraktiv (antagonistische, „aufhebende" Wirkung), hierarchisch (nach Wirkungs¬ketten: z.B. Zuneigung bewirkt Sicherheit, Sicherheit bewirkt Erkundungs¬freude) oder nach Zeitpunkten, Ebenen (z. B. gesellschaftlich, individuell), Wichtigkeit geordnet bzw. verschachtelt. Eine besondere Form des Ver¬hältnisses von Faktoren ist ihre Ähnlichkeit untereinander (Kovariation, Korrelation), i, e. ihre gemeinsame Variation, was auf eine ihnen gemein¬same Ursache hindeuten kann;
- durch die Art des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren (Wechselwir-kungen, Interaktionen) können „neue Qualitäten" entstehen („das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile"), und es ergibt sich eine jeweils mit spezifischer Wirkung ausgestattete Konstellation oder Kombination von Faktoren.
Zusammengefaßt bleiben folgende essentielle Gesichtspunkte des multifakto-riellen Modells hervorhebenswert:
- Ein Verhalten (oder ein Satz von Verhaltensweisen; = abhängige Varia¬blen) wird durch eine Anzahl von Faktoren unterschiedlicher Herkunft (gesellschaftliche, soziale, biografische, organismische Variablen; = unab-hängige Variablen) erklärt.
- Zwischen den erklärenden Variablen besteht eine Struktur der wechsel¬seitigen Beziehungen unter jeweils verschiedenen Strukturaspekten (kau¬sale Abhängigkeit, Interaktion, Kovarianz, hierarchische Verschachtelung etc.).
Das Modell klingt einfach - es ist aber hochkompliziert. Wenn es zur Erklä¬rung irgendeines Verhaltens nur zehn Variablen gäbe, so sind allein zahl¬reiche Wechselwirkungen, zahllose Ausprägungskonfigurationen oder son¬stige strukturelle Verknüpfungen denkbar, die man überprüfen müßte, um sicher sagen zu können, welche Ordnung der Faktoren das vorherzusagende Verhalten bewirkt.
Das Modell scheint dennoch überschaubar komplex - ist es aber nicht, weil die jeweilige Definition und Operationalisierung der erklärenden wie zu erklä¬renden Faktoren umstritten und in der Tat unübersehbar vielfältig ist. Ein Faktor wie z. B. Intelligenz läßt sich durch -zig verschiedene Intelligenztests definieren. Was der eine Wissenschaftler als eine einzige Variable konzipiert (z. B. Entschulung), sind bei einem anderen gleich ein Dutzend verschiedener Faktoren (z. B. Anteil freier Aktivität, altersgemischte Gruppen, Schulähn¬lichkeit der Inhalte etc.).
Das multifaktorielle Modell (additives Grundmodell) liegt den verschiedenen multi- variaten statistischen Auswertungsverfahren wie z.B. multiple Regression, kanoni¬sche Korrelationsanalyse, Pfadanalyse, Faktorenanalyse, aber auch im Prinzip der Varianz - und Diskriminanzanalyse zugrunde. Die Kompliziertheit der Rechen¬technik zur konkreten Bestimmung von Modellparametern (z. B. bei der Faktoren¬analyse die Bestimmung der Faktoren) verstellt oftmals den Blick auf die recht einfachen und einsichtigen Grundvorstellungen (vgl. insbesondere van de Geer 1971 / Gaensslen/ Schubö 1973).
Das multifaktorielle Grundmodell ist zunächst ein deterministisches Erklä-rungsmodell — in seiner Umkehrung aber auch ein pädagogisches Handlungs-modell, nicht minder deterministisch, nicht minder formaler Grundkonsens. Die Umkehrung besagt: ein Verhalten, das multifaktoriell verursacht wird, ist auch nur über eine Beeinflussung der vielen Verursachungsfaktoren zu steuern. Eine Veränderung der Entstehungsbedingungen eines Verhaltens - die im einzelnen für den pädagogischen Zugriff unterschiedlich „leicht" bzw. „schwer" zugänglich sind - soll somit das erwünschte Ergebnisverhalten er¬reichen helfen.
Der multifaktorielle Grundansatz als Handlungsmodell enthält selbstver¬ständlich auch alle eigentlich erzieherischen Variablen: Art der didaktischen Aufbereitung und Schwierigkeit des Stoffes, Verständlichkeit und Anschau¬lichkeit der Darbietung, Grad der Eigenaktivität der Schüler, Selbstbestim¬mung, Erzieherverhalten etc. Zum Teil werden in bestimmten didaktischen Ansätzen (vgl. zum Situationsansatz den Beitrag von Gerstacker und Zimmer in diesem Band) Interaktionen zwischen Stoff und Lebenssituation der Kin¬der bewußt aktiviert, weil diese z. B. motivationssteigernd wirken. Zum Teil wird auch die Integration und Abstimmung der auf das Kind einwirkenden Einflußfaktoren (z. B. Eltern, Schule, Freizeit, Gemeinwesen) betont - Indiz für eine (bewußte oder unbewußte) multifaktorielle Beeinflussungsstrategie.
III. Modellgrenzen
Der Exkurs auf einen modelltheoretischen Grundkonsens („Theorien" i. e. S., wie z. B. die Lerntheorie oder die Feldtheorie, machen jeweils verschiedene Zusammenhänge zwischen den Einflußfaktoren geltend bzw. blenden be¬stimmte Variablen aus) ist nötig, um die Begrenzungen der pädagogischen Einflußnahme auch im Kleinkindalter deutlich zu machen und sortieren zu können (denn das Grundmodell ist selbstverständlich allgemein gültig).
1. Kenntnisgrenzen
Die erste und einfachste Begrenzung ergibt sich aus der Tatsache, daß längst nicht alle Variablen und Einflußfaktoren eines Verhaltens bekannt sind und daß deren Zusammenwirken noch nicht endgültig aufgeklärt ist. Die Annahme fehlender oder noch nicht bekannter Variablen wird zwingend, wenn es trotz Berücksichtigung vieler Faktoren nicht gelingen will, ein Ver¬halten zu erklären. So erwies sich z. B. die bessere Anpassung von ehemaligen Modellkindergartenkindern gegenüber ehemaligen Vorklassenkindern an die
Grundschule überraschend, da die Vorklasse und nicht der Modellkindergar¬ten in größerer inhaltlicher und organisatorischer Kontinuität zur Grund¬schule steht (vgl. Dollase 1978c).
Gelegentlich werden sehr hohe Aufklärungskoeffizienten - zumal bei mul¬tiplen Korrelationen - berichtet, die sich allerdings an anderen Stichproben kaum replizieren lassen (eine „Optimierung der Fehlervarianz" zur Vorher¬sage der Kriterienvariable: vgl. Guilford 1956, 390 ff.). Nur eine detaillierte Analyse der statistischen Verarbeitung von Daten und eine mehrfache Repli¬zierung der jeweiligen Untersuchung vermag zu einer sicheren Einschätzung eines Leistungsfortschritts führen. Es ist an der Zeit, daß argumentativ wich¬tige Studien aus dem Früh- und Vorschulbereich (z. B. Hospitalismusunter¬suchungen, Studien zur Langfristigkeit frühkindlicher Intelligenzgewinne, Zwillingsstudien etc.) zur Sicherung von Erkenntnxsfortschritten häufig wie¬derholt werden - übrigens eine ideale Aufgabe im Rahmen von Examens¬bzw. Diplomarbeiten.
Die Erklärung des Zusammenwirkens von Faktoren ist ähnlich aufwendig und unabgeschlossen wie die Suche nach ihrer endlichen Anzahl. Die Möglich¬keiten des Zusammenwirkens von nur wenigen Faktoren sind derart zahl¬reich, daß es kaum glaubhaft ist, wenn man behaupten würde, man hätte heute die wichtigsten Determinanten kindlichen Verhaltens sicher im Griff. Daß die Erziehung von Kindern funktioniert, daß wir (wie die Steinzeit¬menschen auch) unseren Nachwuchs erwachsen machen können, bedeutet ja nicht, daß uns das komplexe Zusammenwirken der daran beteiligten Ein¬flußfaktoren transparent und handhabbar ist.
Fehlleistungen der Pädagogik, die auf ungenügender Kenntnis des Zusam-menwirkens von verschiedenen Faktoren beruhen, werden im Konzept der „bewußten" bzw. „unbewußten" Erziehungswirkungen (intentionales und funktionales Lernen, „heimliches" Curriculum) bzw. der „Nebenwirkungen" thematisiert. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um Benennung und Beschreibung unbekannter Wechselwirkungen, Kovariate etc. Die einseitig akzentuierte Lernspielzeug welle im Vorschulbereich — überhaupt: das weit-gehende Versagen der Programme im Elementarbereidi ist ein Paradebeispiel für unifaktorielle Förderung (meist: kognitive Anregung) unter Absehen von Wechselbeziehungen zu anderen Wirkgrößen - ist z. T, allein aus Kenntnis¬mangel entstanden.
Die einzelnen, ein Verhalten erklärenden Faktoren stehen in einer gewissen Ordnung zueinander. Gesellschaftliche Faktoren (z. B. gesetzliche Grund¬lagen, Auftrag, Geschichte, Institutions- und Organisationsform, Verwaltung, normative Vorgaben des Trägers etc.) konstituieren z. B. eine andere Ebene als etwa erzieherische Faktoren (z. B. Stoffauswahl, Erzieherverhalten, päd¬agogisches Konzept) oder personale Voraussetzungen des Kindes (z. B. soziale Herkunft, Intelligenz, Motivation). Der Zusammenhang dieser verschiedenen
Ebenen ist so deutlich, wie oft angenommen, noch nicht geklärt. Die grund¬legende Bedeutung der gesellschaftlichen Vorgänge heißt nicht, daß „vor Ort" (lokal, i. e. in der Interaktion mit dem zu Erziehenden) nicht auch ganz untypische und „global" (gesellschaftlich) nicht geplante und vorhergesehene Prozesse ablaufen könnten. Der Wirksamkeit globaler, gesellschaftlicher Vor¬gaben wird oft lokal entgegengearbeitet, wie andererseits lokale Verände¬rung durch globale Weichenstellung verhindert wird. Gegenseitige wie ein¬seitige Verstärkungen ebenso wie Behinderungen der Faktoren auf verschie¬denen Ebenen sind feststellbar. Man muß das in dieser Weise sehen, um Lernprozesse beim Kind verstehen zu können. Der Wechsel in der Träger¬schaft einer vorschulischen Einrichtung z. B. (etwa von einem freien zu einem kommunalen Träger) bedeutet für die Entwicklung eines 5jährigen Kindes nichts, wenn nicht gleichzeitig auch lokale Maßnahmen, etwa im Lernangebot, damit korrespondieren.
2. Handhabbarkeits- und Realisierungsgrenzen
Vorausgesetzt, man würde die ein kindliches Verhalten erklärenden Faktoren und die genaue Art ihres Zusammenspiels kennen, so ergäben sich dennoch Probleme ganz neuer Art, wenn man ein Erklärungsmodell in ein Hand¬lungsmodell umsetzt, wenn man also die für die Erzielung eines erwünschten Verhaltens notwendigen Maßnahmen realisieren will. Neben der dazu not¬wendigen und nicht immer vorhandenen methodischen Kreativität handelt es sich im wesentlichen um das Problem des Implementationszusammenhan¬ges bzw. der Veränderung des Wirkungsgefüges durch pädagogische Ma߬nahmen.
Das multifaktorielle Grundmodell verleitet oft zu einer additiven Anwen¬dung isolierter Förderungsmaßnahmen, die Heinsohn (1975, 46) wie folgt glossiert:
„Das Kind, das nicht differenziert sprechen kann, hat zu wenig gesprochen und bekommt ein Sprachtraining. Das Kind, das nicht logisch denken kann, hat zuwenig nachgedacht und bekommt ein Denktraining. Das Kind, das ins Bett macht, kann seine Schließmuskeln noch nicht kontrollieren und wird daran mit nächtlichen elek¬trischen Schlägen gemahnt. Das Kind, das zu dick ist, hat zu viel gegessen und erhält eine Fastendiät. Das Kind, das sehr unruhig ist, hat zu wenig Ruhe gehabt und erhält ein Dämpfungsmedikament usw. Ein Kind, das alle Mängel zusammen hat - was zur Überraschung der Psychologen sehr häufig vorkommt - erhalt hinter-einander ein Sprach- und Denktraining, dazu eine Hungerkur, zwischendurch die Tranquilizer und nachts die elektrischen Schläge."
Wenn auch dieser hier kritisierte „Fehler" durch Beachtung der vielen am Entstehen einer Verhaltensweise beteiligten Faktoren und ihres Zusammen¬wirkens vermieden werden kann, so wird doch oft übersehen, daß der päd¬agogische Eingriff dem Erklärungsmodell einen neuen Faktor hinzufügt, der das Zusammenspiel der bisherigen Faktoren verändert. Pädagogische Ma߬nahmen - auch die von Heinsohn kritisierten — verändern ein Wirkungs- gefüge. Sie sind also nicht nur Reaktion auf eine Bedingungsanalyse, sondern zugleich auch wieder Aktion bei der Entstehung von Verhalten. Ein pädago- gisches Problem ist also noch nicht gelöst, wenn aus einer Analyse eine päd¬agogische Konsequenz gezogen und praktisch realisiert worden ist, sondern wenn die Konsequenzen der Konsequenz bekannt sind, d. h. die Wirkung der neuen Maßnahme im bisherigen Bedingungsgefüge abzuschätzen ist. Die Implementation (Einpflanzung) schafft also neue Probleme, die sich oft genug als Grenzen pädagogischer Intentionen und ihrer Realisierung heraus¬stellen. Insbesondere können richtig erschlossene und korrekt angelegte Ma߬nahmen im öffentlichen Erziehungssystem Konsequenzen in Bereichen erfor¬dern (z. B. Ausbildung, Wissenschaft und Forschung), die bislang nicht als verursachend für das Zielverhalten gesehen werden konnten (weil es sie noch nicht gab). Bleiben sie aus, können richtige Intentionen und Eingriffe durch Übersehen ihrer Eigenwirkung in das Gegenteil verkehrt werden. Die richtige Analyse und die Überprüfung der Wirkungen einer Maßnahme legt offenbar diese nicht eindeutig fest, sondern läßt noch einen gewissen Gestaltungsspielraum für mehr oder weniger viel Raffinesse, Kreativität und Ganzheitlichkeit. Vergleicht man z. B. den Situationsansatz (Arbeitsgruppe Vorschulerziehung 1973) mit einigen Spielarten des funktionsorientierten Ansatzes (zum Vergleich der didaktischen Ansätze: vgl. Retter 1975), so wird deutlich, wie sich identische Ziele einerseits elegant, andererseits umständlich mit jeweils unterschiedlicher Berücksichtigung von Nebenzielen erreichen las¬sen. Der Situationsansatz ist effektiver, d. h., die Aufwand-Nutzen-Bilanz sieht günstiger aus.
Das multifaktorielle Grundmodell macht auch deutlich, daß es Klassen mit¬telbar wirkender Bedingungsfaktoren gibt, die dem Erzieher vor Ort nicht und der Pädagogik als Wissenschaft zur Manipulation kaum offenstehen: politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Faktoren. Diese Tat¬sache muß nicht zu Resignation oder zur Substitution der Pädagogik durch Politik führen - sie kann auch als besondere wissenschaftliche Herausforde¬rung zur Erkundung der Grenzen pädagogischer Vorhaben angesehen werden (oder; als erwartete Antwort auf die Frage, wie man den pädagogischen Fak¬toren im sozialisatorischen Wirkungsgefüge mehr Gewicht verschaffen kann).
3. Situationsspezifität und dimensionsanalytische Grenzen
Das Grundmodell kann als allgemeingültige Vorhersage des Verhaltens von Gesamtheiten, aber auch von Individuen gebraucht werden. Abgesehen von meßtheoretischen Grenzen (z. B. Reliabilität und Validität), kann das Modell wegen seiner Fixierung auf Faktoren (Dimensionen, Variablen) prozessuale, situationsspezifische und interaktionale (soziale) Aspekte des Verhaltens nicht erfassen. Es abstrahiert, wenn man so will, von den Situationen und von der Zeit, indem es versucht, dimensionale Kennzeichen des hic et nunc zu analy¬sieren. Gewiß lassen sich aus den Ausprägungen bestimmter Dimensionen zahlreiche Situationen und Prozesse rekonstruieren - es bleibt jedoch immer ein Rest Einmaligkeit und Einzigartigkeit (Spezifität) übrig, der nicht oder nur durch den Zufall erfaßt werden kann.
Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird zum größten Teil durch die Situationsspezifität bestimmt. Es kann der Wissenschaft wohl kaum ge¬lingen, Praxis so zu erfassen, daß einzelne Verhaltensabläufe genau vorher¬zusagen wären. Die Biologie wird es sich - ein Vergleich — auch nicht zur Aufgabe machen, den genauen Lageplatz eines vom Baum gefallenen welken Blattes vorher zusagen: ein wohl absurd perfektionistisches Vorhaben. Ähn¬lich in der Entwicklung des Kleinkindes: In der Interaktion eines Säuglings mit seiner Betreuungsperson entstehen derart spezifische beiderseitige An¬passungsstrategien, die kaum zu verallgemeinern sind und die zugleich auch durch Zufälligkeiten bestimmt werden können. Der Schluß von Einzelfällen auf den Durchschnitt und umgekehrt ist nicht nur in diesen Fällen problema¬tisch (vgl. den Beitrag von Rudinger) - das gilt für Erklärungen von Ver¬halten wie für die Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen. In der allgemeineren Dichotomie nomothetischer und ideographischer Aus¬sagen geht nicht nur ein Teil der Theorie-Praxis-Dissonanz auf, sondern auch die unterschiedliche Bedeutung einzelner Faktoren. Was nomothetisch signifi¬kant und relevant sein kann, ist ideographisch u. U. belanglos und umge¬kehrt. Der Zufall kann individuell bedeutsam sein — in allgemeingesetzlichen Aussagen zur Kleinkinderziehung kommt er nur als präzisionsmindernder Voraussagefehler vor.
Positionen eines unterschiedlichen Realitätsbezuges in der wissenschaftlichen Forschung markieren experimentelle und Feldforschung. Beide Formen er¬gänzen einander, aber: „Es hat zu viele Beispiele gegeben, wo die Entwick¬lung von Kindern durch Mobiles, Kleinkindfibeln und Plastik im Dienste logischen Lernens gefördert' werden sollte, weil — wenn überhaupt - a priori einseitige Laboruntersuchungen zu ,signifikanten Unterschieden' geführt ha¬ben" (Grossmann 1977b, 874).
IV. Ziele und Zeit als Grenzen
Die Entwicklung eines Menschen ist Teil einer historischen Epoche, Abschnitt in einer geschichtlichen Entwicklungslinie. Die Erforschung menschlichen Ver-haltens so wie in den Naturwissenschaften trübt manchmal den Blick für die Zeitgebundenheit von Verhaltensdeutungen und pädagogischen Handlun¬gen, die von historisch sich wandelnden Zielvorstellungen (Normen) geleitet werden.
Dem Bericht über eine entwicklungspsychologische (methodisch akribisch durchge¬führte) Untersuchung zur Persönlichkeitsentwicklung von 1800 adoleszenten Jugend¬lichen (Nesselroade/Baltes 1974) ist zu entnehmen, daß es für die Ausprägung zahlreicher Persönlichkeitsvariabler keinen dominanten Alters- oder Kohort- (glei¬cher Geburtszeitraum), sondern nur einen deutlichen Zeiteffekt (Untersuchungs¬zeitpunkt) gibt, womit die Historizität von Befunden belegt ist. Die gegenwärtigen Bedingungen bestimmen das Verhalten deutlicher als frühere Erfahrungen oder das biologische Alter des Menschen.
Die Früh- und Vorschulpädagogik ist insbesondere mit Fragen der Fristigkeit von Lerneffekten befaßt. Nach zum Teil euphorischen Einschätzungen der Langfristigkeit frühkindlich erworbener Fähigkeiten (angeregt durch Bloom 1964) macht sich heute Ernüchterung breit: Die Kritik der Bloomschen Thesen (vgl. Krapp / Schiefele 1976), aber auch konkrete Erfahrungen über den schnellen Verlust frühkindlicher Förderungsvorsprünge in internationalen und nationalen Vorschulbildungsexperimenten und die Erkenntnisse zur Ver¬änderbarkeit von Eigenschaften auch im höheren Lebensalter (Kangas / Brad- way 1971), haben deutlich gemacht (vgl. den Beitrag von Ewert), daß es mit der besonderen Sensibilität der frühen Lebensjahre so wie erhofft nicht be¬stellt ist.
Die prognostische Garantie der Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen muß aus empirischen und logischen Gründen recht kurzfristig ausfallen (vgl. Dol- lase 1978a). Grundlage solcher Prognosen kann nämlich nicht nur die Inten¬sität und Stabilität der Eigenschaftsausprägung eines Individuums sein, son¬dern auch die Stabilität der unmittelbaren gesellschaftlichen und sozialen Umgebungsbedingungen für das Individuum, die man weit weniger sicher prognostizieren kann als die weitere Entwicklung eher organismischer Va¬riabler.
Ziele und Normen der Erziehung sind ein Reflex auf die jeweilige historisch- gesellschaftliche Situation. Sie sind ebenfalls nicht stabil. „Wellen" der jüng¬sten Zeit - z. B. Frühlesen, Mengenlehre, antiautoritäre Erziehung - sind, kaum handhabbar, bereits wieder passe. Die Grenzen pädagogischer Einfluß-möglichkeiten sind auch jeweils durch die Fluktuation unserer Ziele bestimmt - durch das, was man heute will und morgen schon nicht mehr. Ziele sind mehr oder weniger ehrgeizig. Anspruchsvolle Zielsetzungen (etwa im Bereich der sozial-emotionalen Förderung - vgl. Dollase 1978b - z. B. Ambiguitatstoleranz, Kooperationsfähigkeit, Solidarität, Toleranz) lassen den erreichten und erreichbaren Stand der pädagogischen Leistungsfähigkeit als schlecht erscheinen. Bescheidene Zielsetzungen (z. B. Gewöhnung an eine Gruppe) ermöglichen leichte Erfolgserlebnisse. Angesichts dieser Zielsetzungs¬dynamik ( - der aus der Leistungsmotivationsforschung bekannten nicht un¬ähnlich -) sind alle denkbaren Antworten und Einschätzungen der pädagogi¬sehen Leistungsfähigkeit zu relativieren: pessimistische wie optimistische Wer¬tungen sind in Abhängigkeit vom Anspruchsniveau für ein und denselben Leistungsstand zu begründen.
V. Kleinkindspezifische Grenzen
Die bislang genannten Grenzen pädagogischer Einflußnahme sind mehr oder weniger gültig für jede Art von Erziehung bzw. pädagogisch motivierter Maßnahmen. Das Kleinkindalter hat darüber hinaus einige spezifische Be-sonderheiten (z. B. das niedrige Lebensalter und der geringe Kompetenzstand der zu Erziehenden), von denen einige hier herausgestellt werden. „Wunderkinder" hat es immer gegeben: dreijährige, die lesen und schreiben konnten, vierjährige, die Klavier spielten und Stücke komponierten, fünf¬jährige, die komplizierte Rechenaufgaben gelöst haben (vgl. Schmalohr 1971, 31 ff.). Das, was einzelne Wunderkinder leisteten, ließ sich meist nicht mit der Mehrheit der Kleinkinder erreichen. Probleme der Uber- und Unterforde¬rung und die schwierige Aufgabe der Bestimmung einer alters- und individu¬umangemessenen Anforderungsgrenze sind hier relevant (vgl. den Beitrag von Simons und Sedlmayr-Länger). Keinesfalls darf man die Leistungen von Wunderkindern (- die im übrigen nicht unbedingt mit Wunderleistungen im Erwachsenenalter korrespondieren —) als den in diesem Alter prinzipiell erreichbaren Standard ansehen. Einerseits sind außergewöhnliche Konstella¬tionen nicht allgemein herstellbar und andererseits ist eine extreme Speziali¬sierung nicht unbedingt wünschenswert (z. B. wegen Defiziten in anderen Bereichen).
Kleinkinder können allerdings mit grundlegenden Informationen über unsere Umwelt und mit der Kenntnis einfacher Kultur- und Verkehrstechniken (z. B. lesen, schreiben, zählen, Bedienung von automatischen Geräten etc.) ausgestattet werden - obwohl sich unsere Umwelt zunehmend komplizierter präsentiert. Eine Ursache für diese stetige Vorverlagerung von Informations¬aufnahme und Fertigkeitserwerb ist u. U. darin zu erblicken, daß dies inte¬griert geschieht, d. h. eingebettet in den normalen Lebenszusammenhang (z.B. Kontakt mit Fernsehen, Auto, Tonband, Urlaub in fremden Ländern etc.) und nicht in einer abgespalteten Erziehungssituation. Die epochale Erweite¬rung des kleinkindlichen Horizontes läßt erahnen, daß die Anpassungsgren¬zen der Kleinkinder womöglich noch nicht erreicht sind. Zur Effektivitätssteigerung der Vermittlung stofflicher Inhalte (z. B. die Uhr kennenlernen) ist allerdings mit Sicherheit von Vorteil, wenn Stoffauf-bereitung und -Vermittlung erfahrungsgeleitet tradiert und optimiert werden. Da nur ein Teil der Kleinkinder mit Erziehungsinstitutionen des Elementar¬bereichs Kontakt hat (in denen dies über die Ausbildung der Erzieher geleistet werden könnte) ist zu fürchten, daß die Uberlieferung effektiver Ansprache und Vermittlung von grundlegenden Fertigkeiten im familiären Kontext gestört wird, da es angesichts der Vereinzelung des Nachwuchsaufziehens (Baby Baisse) keine „natürlichen" Selektionen und Uberlieferungen optimaler Inhalte und Methoden geben kann. Immer weniger Eltern haben vor dem Umgang mit ihren eigenen Kindern den mit anderen Kleinkindern üben oder auch nur beobachten können.
Der unmittelbare Umgang mit Kleinkindern lehrt, was in der Diskussion um die frühkindliche Erziehung mit ihrer starken Betonung der Machbarkeit und Beeinflußbarkeit fast in Vergessenheit geraten ist: daß der Säugling und das Kleinkind in weitaus stärkerem Maße als bisher angenommen das Verhalten der erwachsenen Betreuungspersonen determiniert. Beobachtet man Eltern mit Neugeborenen, so ist eigentlich auch für den Laien evident, daß der Säug¬ling in viel stärkerem Maße als die Eltern den Tagesablauf bestimmt. Bei Eltern von 4- bis 5jährigen Kindern ist die Dominanz der Eltern unüberseh¬bar, aber: im Vergleich zu kinderlosen Ehepaaren ist der das Erwachsenen¬verhalten modifizierende Einfluß des Kindes immer noch spürbar. Kleinkin¬der als eine „Tabula rasa" zu konzipieren, die von den Erwachsenen nach Belieben beschriftet werden kann, ist falsch, solange es um die frühkindliche Entwicklung geht (vgl. den Beitrag von Lehr in Band 1). Dennoch wird mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Manipulation des Kindes durch den Erwachsenen und seine Welt evident. Das geht mit der Ver- sprachlichung des Umgangs einher. Die partielle bzw. totale Nichtsprachlich- keit des Umgangs mit Neugeborenen, Säuglingen und Kleinstkindern bedingt als Kommunikationsbarriere den geringen Einfluß der Erwachsenen. Die fehlende oder vorhandene Feinfühligkeit erwachsener Betreuer (vgl. Gross¬mann 1977a) für Kleinstkinder erweist sich als ein entscheidendes sozialisa- tionsbeeinflussendes Element.
VI. Ausblick
Geht man an die Bestimmung der Grenzen pädagogischer Einflußmöglich¬keiten im Kleinkindalter heran, so ist eine zweifach interpretierbare Situation festzuhalten. Einerseits ist aus der Perspektive der exakten Wissenschaften und eines deterministischen Anspruches eine perfekte, bewußte Manipulation des Nachwuchses nicht möglich, andererseits ist die Selbstverständlichkeit der Aufgabe und Leistung - Soziaüsation des eigenen Nachwuchses - auch in den früheren Naturvölkern gegeben, also offenbar eine Sache, die keinen profes-sionellen Zugriff erfordert.
Die Frage, warum es Gesellschaften immer gelingt, den erforderlich qualifi¬zierten und angepaßten Nachwuchs heranzuziehen, ist eine interessante Frage der Theoriebildung in den Sozialwissenschaften. Offensichtlich sind aber einige Gesellschaften dabei erfolgreicher als andere, was mit Dominanz und Wohlergehen als Nation im internationalen Vergleich korrespondieren kann. Die Frage, ob das bislang Erreichbare viel oder wenig sei, ist also müßig - eine Optimierung der pädagogischen Einflußmöglichkeiten eine quasi unumgäng¬liche gesellschaftliche Aufgabe. Diese Arbeit an der Verbesserung der Erklä¬rung von Verhalten und den pädagogischen Handlungsmöglichkeiten muß die gesamte Breite der Faktoren und Möglichkeiten betreffen. Im Kleinkind¬alter heißt das konkret, daß es kaum „nutzlose" Bereiche geben kann. Die Förderung einer breiten Vielfalt von Ansätzen, Untersuchungsrichtungen und curricularen Konstruktionsarbeiten ist nicht nur ein Programm für die Wissenschaft, sondern auch analog für die Praxis der Erziehung von Klein¬kindern. Hierfür gibt es zwei Gründe:
- Die Annahme der multifaktoriellen Bedingtheiten von Verhalten zwingt Wissenschaft und Praxis zur Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren, legt eine breite, vielfältige Anregung des Kindes und eine multifaktorielle Beeinflussungsstrategie nahe, um möglichst viele Faktoren zu aktivieren und das Ziel präzise zu erreichen.
- Die Zukunftsunsicherheit über langfristige Effekte frühkindlicher Erfah¬rungen, aber auch die weitgehende Unaufgeklärtheit der Anzahl bedeut¬samer Faktoren und deren Zusammenwirken, erfordert zudem eine viel¬fältig und flexibel orientierte Wissenschaft wie Praxis, da einseitige Fest¬legungen bei Unsicherheit ein erhöhtes Risiko der Fehlentscheidung bedeu¬ten.
Wenn trotzdem einige Bereiche bzw. Faktoren genannt werden, bei denen z. Z. eine Schwerpunktsetzung sinnvoll erscheint, so nicht, um diese über andere herauszuheben, sondern um deren relative Vernachlässigung zu kom¬pensieren. Es sind dies:
- die stärkere Beachtung organisatorischer Faktoren in der Erziehung von Kleinkindern. Dies gilt nicht nur wegen möglicherweise direkter Einflüsse der Strukturierung, Organisation und äußeren Beschaffenheit der unmittel¬baren Umwelt (vgl. den Beitrag von Schultz-Gambard), sondern insbeson¬dere wegen mittelbarer Wirkungen (über den Betreuer) organisatorischer Faktoren auf Entwicklung und Befindlichkeit des Kleinkindes. Sowohl in der familialen wie institutionalisierten Erziehung sind organisatorische Op¬timierungen denkbar (z. B. Tagesabläufe, Raumausstattungen, Strukturiert¬heit etc.), die Reibungen und kritische Situationen nicht mehr nur zum Zu¬fallsprodukt machen, sondern zur geplanten pädagogischen Maßnahme.
- Die intensive Befassung mit psychischen Problemen des Erziehers bzw. Be-treuers von Kleinkindern. Dem Erzieherverhalten (Elternverhalten) ist traditionell sehr viel Interesse entgegengebracht worden - das beruhte auf der richtigen Einschätzung der Wichtigkeit des Erzieherverhaltens. In der gegenwärtigen Struktur des Erziehungswesens ist der Erzieher (Lehrer, Eltern) der wichtigste Vermittler von Lernprozessen. Bei der Erarbeitung von Regeln für richtiges Erzieherverhalten geriet aber die psychische Situa¬tion des erziehenden Erwachsenen aus dem Blickfeld (vgl. zum Desinteresse des Pädagogen: Heinsohn/Knieper 1976, 20 ff.). Die Nebenwirkungen des Erziehens auf den erziehenden Erwachsenen sind sicher als zentrale Fakten des Erziehungsvorgangs einzuschätzen und bedürfen verstärkter Aufmerk¬samkeit.
- Die Verbesserung der diagnostischen Kompetenz von Kleinkinder erzie¬henden Erwachsenen. J5amit ist nicht nur die Handhabung eines professio¬nellen diagnostischen Instrumentariums gemeint, sondern in erster Linie die Fähigkeit, sich in einem Beobachtungs- und Kommunikationsvorgang mit Säuglingen und Kleinkindern ein zutreffendes Bild von der Situation des Kindes, seinen Interessen und Wünschen machen zu können (Feinfühligkeit nach Ainsworth, vgl. Grossmann 1977a, 96 ff.). Die Situationsspezifitat der Kleinkinderziehung und die weitgehende Untauglichkeit von allgemei¬nen Ratschlägen für konkrete Erziehungsprobleme machen diese jeweils situationsspezifische Adjustierung des erziehenden Erwachsenen nötig.
Wenn man — wie hier teilweise geschehen - die Schwierigkeit des Erziehens heraus¬stellt und überwiegend noch ungelöste Probleme und Nichtwissen in den Vorder¬grund rückt, dann ist eine enttäuschte oder auch verärgerte Reaktion des Lesers denkbar. Genauso ärgerlich ist es aber, Machbarkeit und Allwissenheit herauszu¬kehren und damit den falschen Eindruck zu erwecken, es gäbe in der Früh- und Vorschulpädagogik nichts mehr zu tun oder zu entdecken - das genaue Gegenteil ist der Fall.
Literatur
Allport, G. W.: Personality: a psychological interpretation, New York 1937 Arbeitsgruppe Vorschulerziehung: Anregungen I: Zur pädagogischen Arbeit im
Kindergarten, München 1973 Bloom, B. S.: Stability and diange in human diaracteristics, New York 1964 Dollase, R.: Probleme der Bestimmung und Realisation von langfristigen Erziehungs¬zielen, in: Sozialpädagogische Blätter (1978a), 8-15 Dollase, R.: Sozial-emotionale Erziehung in Kindergarten und Vorklasse, Hannover 1978(b)
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Guilford, J.P.: Fundamental Statlstics in Psychology and Education, 3. Aufl. New York 1956
Grossmann, K. E. (Hrsg.): Entwicklung der Lernfähigkeit, München 1977(a) Grossmann, K. £.: Frühe Einflüsse auf die soziale und intellektuelle Entwicklung
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in: Developmental psydiology 1971, 333-337 Krapp, A., und Schiefele, H.: Lebensalter und Intelligenzentwicklung, München 1976 Nesselroade, J.R., und Bültes, P.B.: Adolescent personality, Developmental and historical change: 1970-1972, in: Monographs of the society for research in child development, 154 (1974) Retter, H.: Die Reform der Schuleingangsstufe, Bad Heilbrunn 1975 Schmalohr, E.: Den Kindern eine Chance, München 1971
van de Geer, J. P.: Introduction to multivariate analysis for the social sciences, San Francisco 1971
Winkelmann, W„ Holländer, A., Schmerkotte, H., Schmalohr, E.: Kognitive Ent¬wicklung und Förderung von Kindergarten- und Vorklassenkindern, Kronberg 1977
"Psychoanalyse ist die Geisteskrankheit, für deren Heilung sie sich hält"

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Re: Was ist nun Pädophilie genau!

Beitrag von Horizonzero »

1. fehlt die Quelle - aber, was noch schlimmer sein könnte, 2. ist das kein Zitat mehr, sondern bereits ein umfänglicher Auszug aus 1.
Hat der Autor die Freigabe in dem Werk erteilt?
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Re: Was ist nun Pädophilie genau!

Beitrag von Fetzer »

Oh... das ist eine Veröffentlichung die im Netz
http://pub.uni-bielefeld.de/luur/downlo ... Id=2313905
abgerufen werden kann!
Dann lösch es besser mal.
Schuldige!
"Psychoanalyse ist die Geisteskrankheit, für deren Heilung sie sich hält"

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