Gerdt von Bassewitz - ein preußischer Lewis Carroll?
4. Januar 1878 - 6. Februar 1923
© 2024 Sakura
Fragt man heute jemanden, was er mit dem Namen Gerdt von Bassewitz verbindet, wird man wohl keine Antwort bekommen, weil der Name heute kaum noch bekannt ist. Auch die Suche nach biographischen Details ist schnell beendet, wenn man sich auf die öffentlich zugänglichen Quellen beschränkt - und es ist fraglich, ob es noch weitere gibt. Nicht einmal ein Foto dieses Autors wurde bis heute entdeckt.
Nennt man aber den Titel seines bekanntesten Werkes, wird man dem Zuhörer augenblicklich ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Jeder kennt "Peterchens Mondfahrt", sei es als Bilderbuch, Hörspiel oder Bühnendrama. Bis heute wird dieses Buch in immer neuen Variationen herausgebracht. Wer war der Mann, der durch ein einziges Werk für Kinder seinerzeit so bekannt wurde wie Lewis Carroll mit "Alice im Wunderland"?
Ein biographischer Essay wird sich auf die wenigen zugänglichen Informationen beschränken müssen, deren wertvollster und ergiebigster Teil aus der Feder des Autors selbst stammt: Ein eigenhändiger Brief aus dem Jahr 1917, der aus einem Nachlass in die Staatsbibliothek zu Berlin gekommen und wahrscheinlich das einzige überlebende biographische Dokument ist. Vermutlich war der "Sehr geehrte Herr", der in dem Brief nicht mit Namen angesprochen wird, ein Mitarbeiter eines Verlages, der Biographien zeitgenössischer Autoren für ein Lexikon sammelte und ihn um Angaben gebeten hatte.
Eigene biographische Angaben sind gleichzeitig die authentischsten, aber auch die am wenigsten kritischen. Niemand kann heute noch nachvollziehen, ob die darin geäußerten Zusammenhänge zwischen seiner Krankheit, seiner Autorenkarriere und seinen Berufswechseln den Tatsachen entsprechen oder - egal ob vorsätzlich oder unabsichtlich - Behauptungen sind, die das Leben des Autors in einem nachvollziehbaren Zusammenhang darstellen sollen.
Als einziger Sohn neben vier Schwestern in einer Familie mit militärischer Tradition wurde von Gerdt erwartet, dass ihm schon früh eine militärische Karriere selbstverständlich erschien und von seinen Eltern vorausgesetzt wurde. Nach einer Schulausbildung, zunächst in einer fürchterlich verstaubten protestantischen Bildungsanstalt, danach bis zum 20. Lebensjahr im fürstlichen Pädagogium in Puttbus auf Rügen trat er unmittelbar der preußischen Armee bei und erhielt bereits nach einem Jahr, im Herbst 1899, die Beförderung zum Offizier.
Darüber schreibt er selbst: "[in Puttbus] blieb ich bis zum April 98. und kann wohl sagen, daß ich diese Zeit als die glücklichste meiner Jugend bezeichnen darf. Da mein Vater den Offiziersberuf als den für mich durch viele Beziehungen zu militärischen Kreisen geeignetsten hielt, nahm er mich im April 98 von der Schule [...]"
Diese Worte lassen den Schluss zu, dass seine Entscheidung für das Militär nicht seine eigene war und dass er dadurch aus einer glücklichen Zeit herausgerissen wurde.
Doch seine Karriere währte nur kurz: Schon 1901 wurde er, angeblich wegen einer Herzerkrankung, auf eine weniger anstrengende Stelle versetzt und 1902 noch einmal, bevor er 1903 im Alter von nur 25 Jahren pensioniert wurde.
In seinem Brief von 1917 erwähnt er diese Herzerkrankung noch dreimal. Das ist erstaunlich, weil seine Schilderungen eher auf gravierende psychische Probleme wie eine schwere Depression schließen lassen. Ob Gerdt v. Bassewitz wirklich schwer herzkrank war, kann bezweifelt aber auch nicht ausgeschlossen werden. Im Vordergrund seiner eigenen Schilderungen stehen jedenfalls psychische Symptome, über die er frei schreibt und trotzdem die körperliche Krankheit als Ursache seines Befindens mehrfach hervorhebt.
Möglicherweise galt eine psychische Erkrankung in der mecklenburgisch-preußischen Adelsfamilie als nicht standesgemäß und wurde mit einer Herzkrankheit bemäntelt.
Schon 1903, im Jahr seiner Pensionierung, verfasste er ein erstes Drama "Urstreit", das zwar nicht aufgeführt wurde, aber ihm ein Stipendium einbrachte. In den Jahren danach arbeitete er am Kölner Stadtheater und verfasste mehrere heute gänzlich unbekannnte Dramen mit biblischen Motiven. Etwa um diese Zeit ist auch "Worte zu dir" entstanden, eine Sammlung von naturromantischen Prosatexten.
Aber auch als Direktionassistent war er aktiv: In Köln und Essen organisierte er Inszenierungen damals bekannter Dramen und erwähnt in seinem biographischen Brief auch das Drama "Hanneles Himmelfahrt" von Gerhart Hauptmann. Möglicherweise basierte die Idee zu "Peterchens Mondfahrt" auf diesem Drama. Inhaltliche Parallelen sind ausgesprochen auffällig, wenn auch in ganz unterschiedlichen Rahmenhandlungen. In "Hanneles Himmelfahrt" wird der Tod der 14jährigen Hannele beschrieben, die sich in einer Winternacht aus Angst vor ihrem gewalttätigen Stiefvater zu ertränken versucht, gerade noch herausgefischt wird, aber nach wenigen Stunden unter Halluzinationen stirbt. Darin erscheinen Engel, die verstorbene Mutter, eine "Erscheinung", die ihr Vorwürfe und große Angst macht und dem Stiefvater ähnelt. Auch ihr Lehrer, für den sie romantische Gefühle hegt, erscheint sowohl in ihren Halluzinationen als auch in der Realität.
Im Prinzip ist in diesem Drama die Besetzung von "Peterchens Mondfahrt" schon komplett: Die Kinder müssen auf ihrem Weg zum Mond verschiedene Stationen durchlaufen und Prüfungen bestehen. Der böse Gegenpol ist der Mann im Mond, der die Kinder auffressen will.
Wegen der dürftigen Informationslage zur Entstehung von "Peterchens Mondfahrt" ist diese Deutung zwar plausibel aber nicht wirklich nachgewiesen, so wie fast alles, was biographisch über Gerdt von Bassewitz überliefert ist.
Der Komponist und Dirigent Otto Klemperer schrieb 1911, er habe einen "seltsamen mecklenburgischen Adeligen" kennen gelernt, der einmal Leutnant gewesen sei und "[...] sich aber zum Entsetzen seines Clans der Literatur zugewandt hat. In Königstein schreibt er ein Märchen für zwei der vier Kohnstamm-Kinder, Peter und Anneliese, drei und elf Jahre alt, dem er den Titel Peterchens Mondfahrt gibt."
Diese Angabe ist sicherlich zutreffend und auch höchst aufschlussreich: Offensichtlich hatte v. Bassewitz sich gegenüber Zeitgenossen über seine Hinwendung zur Literatur geäußert und dabei auch durchblicken lassen, dass diese in seiner Familie "Entsetzen" ausgelöst hatte.
Oskar Kohnstamm war Nervenarzt und Leiter eines Sanatoriums, wo Bassewitz zu dieser Zeit lebte. Also auch hier wieder kein Hinweis auf eine Herzkrankheit, sondern auf eine ernsthafte psychische Erkrankung.
Der Kriegsausbruch 1914 führte zu einer eigenartigen Wendung. Bassewitz hielt sich zu dieser Zeit in einem Hotel in Zeebrügge in Belgien auf, um ein Drama in Ruhe zu beenden, musste Belgien aber fluchtartig verlassen. Über Köln gelangte er nach Berlin. Dieses Erlebnis hat ihn nachhaltig beeindruckt: "Die Fahrt von dort nach Köln und Berlin, die jubelnde Begeisterung überall, werde ich nie vergessen. Sie ließ in mir den Entschluß reifen, auf jeden Fall mich in irgend einer Form als Offizier – da ich nun einmal mein Offiziersexamen gemacht hatte – im Dienste des Vaterlands zu betätigen."
In Berlin schrieb er noch ein patriotisches Drama "Das Ziel - ein deutsches Feierspiel dem Erdenfrieden", das aber nicht zur Aufführung kam. Darüber schreibt er: "Nachdem ich [...] in dieser Arbeit meine Ansicht als objektiv über dem gewaltigen Menschheitskampfe stehende Schilderer menschlichen Tuns dargetan hatte, stellte ich mich freiwillig der Militärbehörde und wurde, da mein Herzfehler noch nicht besser geworden war [bedingt] in den Heeresdienst aufgenommen."
Nur bedingt tauglich, wurde er zunächst als Kraftfahrer eingesetzt, meldete sich aber 1915 freiwillig für den viel gefährlicheren Frontdienst, für den er erst die Tauglichkeit erwerben musste, vermutlich in Form einer Grundausbildung.
Während dieser Zeit schrieb er ein weiteres Drama für Kinder, "Pips der Pilz", das in diesem biographischen Zusammenhang wirklich entlarvend ist: In der Rahmenhandlung träumen zwei Kinder zu Weihnachten von dem Pilz Pips, der im Wald wächst und lieber etwas anderes wäre als ein Pilz, der nur herumsteht. Eine Fee lässt ihm erst Beine, dann Flügel, dann Flossen wachsen, so dass er andere Lebensweisen ausprobieren kann. Aber alle Verwandlungen führen in eine Sackgasse: Er sieht, wie ein Hase erschossen, ein Vogel von einem Raubtier erlegt und ein Fisch geangelt wird. Am Ende ist er wieder mit seinem stationären Pilz-Dasein zufrieden und das Sandmännchen trägt den erwachenden Kindern ein Gedicht vor:
"[...]
Wer Abenteuern sich ergibt
Wer Zauberei und Zufall liebt
Der lernt am Leid, wo auf der Welt
Dem braven Mann das Glück sich stellt."
Das Leid wird in dem Märchen mit drastischen Worten geschildert. Heute würde es mit einem Disclaimer versehen werden müssen, aber in einer bearbeiteten Form wurde es 2012 noch einmal veröffentlicht. Weitere Werke von ihm, außer "Peterchens Mondfahrt" wurden nie wieder neu aufgelegt.
Die Moral der Geschichte ist sehr einfach: Jeder soll den Platz einnehmen, der ihm beschieden ist und damit glücklich sein, denn anders ist es nicht möglich.
Setzt sich v. Bassewitz hier mit seinen eigenen Erfahrungen als Schriftsteller in unsicheren Verhältnissen auseinander? Versöhnt er sich hier wieder mit seiner anfänglichen Bestimmung als preußischer Offizier?
Hätte er dieses Märchen 1908 geschrieben, am Begin seiner literarischen Karriere, wäre alles klar gewesen: Er hatte damals ja gegen Widerstände und "zum Entsetzen" seiner Familie eine andere Berufung gefunden als die, die ihm qua Abstammung vorherbestimmt war. Nun aber lässt er seine bisherigen Bemühungen in einem anderen Licht erkennen. Und plötzlich ist auch die Herzkrankheit nicht mehr hinderlich. Hat sich v. Bassewitz vom nationalen Erwachen anstecken lassen? Ganz sicher, und nicht nur das: Er fand sich plötzlich in einem komplett umgekrempelten Leben wieder, das den Erwartungen seiner Familie entsprach, und das er nun als seine eigentliche Bestimmung annahm.
Das Gedicht am Ende von "Pips der Pilz" ist im Lichte seiner Entstehungszeit geradezu verstörend. Zufall, Abenteuer, Leid usw. ist doch das was im Krieg eine herausragende Rolle spielt. Warum muss der "brave Mann" sich freiwillig in den Krieg stürzen? Kann man "Pips" auch anders lesen? Als eine Abrechnung mit seiner plötzlichen Abenteuerlust, die durch den Krieg geweckt wurde? Als biographisches Dokument hätte der Text dann eine hochgradige Ambiguität.
Der biographische Brief von März 1917 schließt mit der Erwähnung eines kompletten Nervenzusammenbruchs Januar 1917, der ihm den Militärdienst künftig unmöglich machte. Danach verliert sich die Spur von Gerdt von Bassewitz in sporadischen anekdotischen Zeitzeugenberichten.
Am 6. Februar 1923 hielt er noch eine Lesung aus seinem bis heute berühmtesten Werk "Peterchens Mondfahrt" in Berlin, um die Versammlung anschließend eilig zu verlassen. Noch am selben Abend beging er Suizid. Es ist nicht einmal überliefert, auf welche Weise er starb.
Sein Grab wurde in den 1950er Jahren eingeebnet.
Das Gesamtwerk v. Bassewitz' ist schmal und besteht größten Teils aus schwülstigen Bibelstoffen und Naturromantik - beides schon seinerzeit recht altbacken und heute vergessen. Als romantischer Dichter kam Bassewitz zu spät. Aber als Kinderbuchautor, der er nie sein wollte, wurde er unsterblich.
Peterchen und Pips sind die beiden Säulen seines Schaffens geblieben. Beides sind Weihnachtsmärchen für Kinder, eher nebenbei und anlassbezogen geschaffen als die Dramen mit denen er sich meistens beschäftigte.
Pips geriet jedoch auch bald in Vergessenheit und wurde erst im Zusammenhang mit dem 100jährigen Jubiläum der Uraufführung von "Peterchens Mondfahrt" neu in veränderter Fassung veröffentlich und dem Vergessen entrissen. Die "Mondfahrt" kann hingegen auf eine ungebrochene Kontinuität der Bekanntheit bis heute zurückblicken und erschien in den 1960er Jahren sogar als Brettspiel.
Das ikonische Kinderbuch erinnert in seiner Wirkmacht an "Alice im Wunderland" von Lewis Caroll. Beide Autoren hatten andere Berufe, aber wurden durch Gelegenheitswerke für Kinder weltbekannt. Man kann ewig darüber streiten, welcher Art die Zuneigung zu Kindern war, die beide Autoren auszeichnete.
Damit enden schon die Gemeinsamkeiten.
Ansonsten trennen Lewis Carroll und Gerdt v. Bassewitz Welten, ja, sie sind das genaue Gegenteil voneinander.
Der englische Mathematiker dekonstruierte die Realität und die in ihr geltenden Regeln komplett bis zur Karikatur. Autoritäten erscheinen mehr lächerlich als Respekt einflößend.
Der preußische Naturromantiker stellte in beiden Werken für Kinder die Regeln in den Vordergrund, die unumstößlich sind. Nur die bravsten der braven Kinder können erleben was Peterchen und Anneliese mit dem Maikäfer Summsemann erlebten. Regeln haben göttliche Autorität und die Kinder kommen nie auf den Gedanken, sie zu hinterfragen. In der Bravheit erfüllt sich das Kinderdasein, dann kommt der Weihnachtsmann sogar im Sommer.
Man kann mit Sicherheit sagen, dass v. Bassewitz Kinder mochte, dass sie sogar eine besondere Inspiration für ihn waren. Aber ihr Denken war ihm vollkommen fremd. Als Erwachsener konnte er sich selbst nur als belehrende Autorität vorstellen, das genaue Gegenteil von Lewis Carroll.
Der große Regelbruch, den v. Bassewitz mit seiner Entscheidung für die Literatur vollzogen hatte, muss ihn unendlich belastet haben. Entschuldigt wurde er mit gesundheitlichen Gründen, obwohl seine Herzkrankheit möglicherweise nur vorgeschoben war, um eine schwere, chronische Depression zu verdecken.
Mit seinen Musen, den Kindern, fand er nie eine gemeinsame Sprache.
- Sakura
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Gerdt von Bassewitz - ein preußischer Lewis Carroll?
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Re: Gerdt von Bassewitz - ein preußischer Lewis Carroll?
Für einen "Freigeist", der den Zeitgeist inhaliert hat, ist eine psychische Erkrankung nur folgerichtig.
Ein solcher Spagat, überfordert jeden. Ein Belehrender kann Kinder lieben, seine Liebe wird aber nie ein Echo finden. Das ist sicher exemplarisch für die damalige Zeit in Deutschland.
Ein solcher Spagat, überfordert jeden. Ein Belehrender kann Kinder lieben, seine Liebe wird aber nie ein Echo finden. Das ist sicher exemplarisch für die damalige Zeit in Deutschland.
9424APZFS
Re: Gerdt von Bassewitz - ein preußischer Lewis Carroll?
@ Sakura
Einfach nur WOW!
Mit Genuss und Vergnügen habe ich Deinen Text gelesen.
Dein Schreibstil - ein Gedicht!
Mehr haben!!!
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Re: Gerdt von Bassewitz - ein preußischer Lewis Carroll?
Der Teil mit Peterchens Mondfahrt klingt interessant. Der Animationsfilm, „Peterchens Mondfahrt - Wie Anna und ihr Bruder das Universum retten.“, kam ja vor ein paar Jahren raus. Ich wusste gar nicht das die Story dahinter schon sooo Alt ist. Den restliche schwulstige Teil musste ich leider überfliegen, weil mich biographische Details von längst verstaubten Knochen einfach nicht interessieren.

Die staatliche Vernichtung von Puppen muss sich für ihre Besitzer wie die Ermordung eines geliebten Familienmitgliedes anfühlen. Konsequent gegen die politische Verfolgung und Inhaftierung von unschuldigen Menschen!
Meine TeleGuard-ID: YHB6PWGT9
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