Ovid hat geschrieben:Ja. Da muss ein Umdenken stattfinden. Eine Modernisierung der Religion. Dass die Beschneidung auch an Bedeutung verliert.
OK, damit kann man leben. Das ist mal ein ganz unovidisch hingesetzter Gedanke ohne viel Rumgeeiere drumherum.
Die Modernisierung kann man jedoch nicht verordnen. Sonst ist sie eine ganz unaufgeklärte Freiheitsberaubung.
Dies zu Ende gedacht, erscheint mir das Thema kaum lösbar.
Multikulti ist da, unumkehrbar und ganz anders als die Grünen der 80er Jahre sich das gedacht hatten, ohne habteuchallelieb-Romantik, sondern mit einer Vielzahl elementar wiedersprüchlicher Parallelgesellschaften.
Innerhalb dieser Gesellschaften hat der Staat als traditionelle (!) übergeordnete Instanz nicht viel zu sagen, wenn er in Räume eindringt, die durch die Tradition dieser Gesellschaften definiert sind. Verbote bringen da nix als ein Ausweichen ins noch Verborgenere.
Möglicherweise ist die Fragmentierung der Bevölkerung in sich kaum berührende Parallelgesellschaften gerade die Herausforderung, die die Bevölkerungen weltweit zu meistern haben, und das heißt auch, ethische Widersprüche auszuhalten.
Deine Ethik ist nicht unbedingt die der anderen, das sehen wir ja an der Beschneidungsfrage, die überhaupt erst zur Frage werden kann, wenn zwei parallele Gesellschaften lokal und zeitlich zusammen existieren.
Innerhalb einer fragmentierten Bevölkerung kann eine Zugehörigkeit zu einer der Parallelgesellschaften dem Individuum so wichtig sein, dass er die Regeln, auch wenn sie aus der Außenperspektive nachteilg erscheinen, für sich und seine Kinder akzeptiert.
Durch diese Konfrontation mit den Mehrheitsgesellschaften findet unweigerlich eine Veränderung statt, denn die reine Tradition erhält außer der inner(parallel)gesellschaftlichen mythologischen Funktion auch die neue Funktion der Abgrenzung und löst sich so von ihrem früheren religiösen Gehalt.
So wird die Beschneidung plötzlich politisch, wird zum Bekenntnis das über den rein religiösen Gehalt hinaus geht.
In dieser so entstandenen Bekenntniskonfrontation, von der wir hier ein Beispiel miterleben, verläuft dann der Diskurs in einer Begrifflicheit, über die sich alle Beteiligten einig sind: Sie sprechen dieselbe sprache - aber in äußerster Feindseligkeit.
Dann prallt hier in Mitteleuropa der Mythos der ureigensten mitgebrachten Identität, der Abgrenzung innerhalb einer als feindselig erkannten Umgebung, zusammen mit dem zeitgenössischen westlichen Mythos der Selbstbestimmung, der auch nur eine Varante einer rigorosen Moralität ist.
Eine Antwort ist noch nicht gegeben.
Einfach vorzuschreiben, dass die Parallelgesellschaften sich dem europäischen, ihnen fremden Wertesystem unterwerfen sollen, ist nichts weiter als die vorschnelle Proklamation eines Endsieges einer der nebenenander exstierenden Gesellschaften. Und dieser Proklamation wird ebenso radikal widersprochen werden.
Das unaufgelöste Nebeneinander nicht vereinbarer Widersprüche hinzunehmen ohne sich des Anderen in brutaler Absolutheit zu bemächtigen oder ihn mit Gewalt zu unterwerfen, das ist die erste wirkliche Probe der bisher allein in innereuropäischen Diskursen entwickelten Idee der Toleranz, und was daraus sich entwickelt, wird zeigen, ob auch diese Idee nichts als ein Mythos war, der in der Begegnung mit anderen Mythen nur die Sprache der Unterwerfung kennt.
Sakura
"Destiny is always revised. Anytime, everywhere." (Siddhartha)